Im Land des Regengottes
Rascheln im Gebüsch. Vielleicht waren es die Soldaten, die uns holten. Vielleicht war es Petrus, der sich auf den Weg zu seinen Leuten gemacht hatte. Ich hob meinen Kopf nicht von den Knien, ich hielt die Augen fest geschlossen, als könnte mich das unsichtbar machen.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß, ohne zu atmen, ohne zu denken. Meine Finger hielten den kleinen Schutzengel umfasst, den Eva mir geschenkt hatte. Mir war gar nicht bewusst, dass ich danach gegriffen hatte.
Irgendwann war alles still. Ich hob den Kopf.
Petrus lauschte neben mir in die Dunkelheit wie ein Tier. »Sie sind weg«, flüsterte er.
»Du bist da«, wisperte ich zurück.
»Natürlich«, erwiderte er.
Als ob es ganz selbstverständlich wäre, dass er sein Leben für mich aufs Spiel gesetzt hatte.
Wir blieben dennoch hinter den Felsen sitzen. Nach einer Weile dämmerte ich ein, obwohl die Dornen mir bei der kleinsten Bewegung die Arme und Beine zerkratzten.
Als ich wieder aufwachte, war es hell. Petrus neben mir war wach, sein Gesicht war grau. Vermutlich hatte er kein Auge zugetan. Ich schob mich so vorsichtig wie möglich aus dem Gestrüpp, aber es nützte nichts, die nadelspitzen Dornen rissen mir an Haaren und Kleidern, stachen mir in Arme, Beine, Hände und ins Gesicht. In der Nacht hatte die Angst die Schmerzen betäubt, dafür waren sie jetzt umso schlimmer. Als wir uns endlich wieder aus dem Gestrüpp befreit hatten, blutete ich am ganzen Körper. Die Risse brannten so sehr, dass ich zu weinen begann.
»Komm her«, sagte Petrus. Durch die Schnitte und Kratzer wirkte sein Gesicht, als trüge er Kriegsbemalung. Er riss einen Streifen Stoff von seinem Hemd und begann meine Wangen zu säubern. »Wir brauchen Wasser.«
Ich blickte zu der Stelle, an der wir gestern kampiert hatten, und erschrak. Der Sack mit meinen Kleidern, Petrus’ Bündel, die Kalebassen, unser Kochgeschirr, die letzten Essensvorräte und die Decken waren weg.
»Sie haben alles mitgenommen«, sagte Petrus beiläufig. Einfach so, als ob es gar nicht weiter erwähnenswert wäre. Als ob wir nur in den nächsten Laden zu gehen brauchten, um uns das Gestohlene wieder zu besorgen.
»Petrus«, flüsterte ich verzweifelt. »Wir sind verloren.«
Petrus schüttelte den Kopf, während er nicht aufhörte, an meinem Gesicht herumzuwischen. Wie die blutenden Risse und Wunden schmerzten!
Unwillig machte ich mich los. »Verstehst du nicht? Wie sollen wir denn überleben, ohne Wasser und Proviant und Kleider?«
Er lächelte.
Er lächelte!Unsere Lage war aussichtslos. Wir hatten nur noch die Kleider, die wir auf dem Leib trugen, und auch die waren von den Dornen zerfetzt. In meiner Schürze klaffte ein Loch und Petrus’ rechtes Hosenbein war von oben bis unten aufgerissen. Genauso gut hätten die Wilden uns erschießen können, dann wäre uns zumindest der langsame, elende Tod erspart geblieben, der uns jetzt erwartete. Wir hatten kein Gefäß, um Wasser zu transportieren. Wir konnten kein Feuer machen, um nachts die wilden Tiere abzuhalten. Sogar Bogen und Pfeile hatten sie uns gestohlen.
»Es ist aus, Petrus«, sagte ich.
Er schien mich nicht zu hören, sondern wandte sich ab und stapfte über die sandige Ebene zum nächsten Hügel. Ich blieb stehen und blickte ihm nach. Wie er aussah! Als wäre er einer Räuberbande in die Hände gefallen. Aber er schleppte sich nicht mühsam voran, sondern ging stolz und aufrecht.
»Was ist, Henrietta?«, rief er jetzt, ohne sich dabei umzudrehen. »Komm! Sonst fressen dich die Geier jetzt schon auf.«
Mein Blick glitt nach oben. Da schwebten sie wieder, unsere lautlosen, gierigen Begleiter. Die Einzigen, die uns bestimmt nie im Stich lassen würden. Als Petrus die Kuppe des Hügels erreicht hatte, gab ich mir einen Ruck.
»Ihr bekommt mich nicht«, murmelte ich finster. »Noch nicht.«
19
Die Erde feierte ein Fest. Die Flora jubelte. Die Fauna paarte sich. Vögel, Schmetterlinge und Insekten umschwirrten, umflatterten und umwarben einander in Zweiergruppen. Auch die größeren Tiere trabten, strichen, schlichen, grunzten und hüpften umeinander herum. In einiger Entfernung kämpften zwei Straußenmännchen, eine Gruppe Weibchen sah ihnen gelangweilt dabei zu. Die Einzigen, die nicht mitfeierten, waren die Geier. Sie warteten auf ihr eigenes Fest.
Ich schleppte mich hinter Petrus her, der so unbekümmert ausschritt, als ob er keine Schmerzen spürte. Auch die kleinen Fliegen, die seine blutenden Wunden
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