Im Land des Roten Ahorns
Stadt zu gehen, war ihr gründlich vergangen. Viele Fragen wirbelten durch ihren Kopf: Ist es wirklich auszuschließen, dass ich das Kuvert verloren habe? Und wenn Warwick es genommen hat, welchen Grund könnte er haben?
Sein Gerede vom Heiraten und dass sie sich erst einmal ausruhen und Reisen mit ihm unternehmen solle, kamen ihr in den Sinn. Ihr fiel auch wieder ein, dass er sein Haus als Geldgrab bezeichnet hatte. Hatte es ihn in den Ruin getrieben?
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag:
Warwick hofft, dass ich ihn heirate!
Schließlich hat er erlebt, dass Vater durch seine Arbeit reich geworden ist. Vaters Ruin hatte sie Warwick gegenüber nie erwähnt. Vermutlich glaubt Warwick, dass ich diese Reise nur dank Vaters Vermögen antreten konnte ...
Plötzlich fühlte Jaqueline sich, als hätte sie einen großen Feldstein im Magen.
Ich hätte ehrlich sein sollen, sagte sie sich. Vielleicht hätte Warwick mir dann gar nicht erst Hilfe angeboten. Aber trifft meine Vermutung überhaupt zu? Ob ich Warwick zur Rede stellen soll?, fragte sie sich. Wahrscheinlich führt das zu nichts. Er wird die gleiche Unschuldsmiene wie am Vortag aufsetzen und behaupten, dass alles einen guten Grund hat.
Jaqueline beschloss, Augen und Ohren offen zu halten und allein herauszufinden, was Warwick im Schilde führte. Sie erhob sich und nahm sich vor, trotz allem einen Spaziergang zu machen. Die frische Luft würde ihr helfen, ihre Gedanken zu ordnen.
Als Warwick am Abend zurückkehrte, verbot sich Jaqueline jegliche Vorwürfe. Obwohl es vor Wut in ihr brodelte und sie ihm am liebsten gleich alles entgegengeschleudert hätte, was sich in ihr aufgestaut hatte, zwang sie sich zur Beherrschung.
Ich werde schon noch herausfinden, ob er meine Papiere und das Geld genommen hat, dachte sie. Aber dazu darf er nicht misstrauisch werden.
»Wie war Ihr Tag, Miss Halstenbek?«, fragte Warwick frohgemut, während er die Satteltaschen auf den Boden stellte. »Haben Sie den Schlüssel gefunden?«
»Ja, habe ich, Mr Warwick. Vielen Dank.«
»Haben Sie Ihre Freiheit denn genutzt?«
»Ich habe mich ein wenig umgesehen, aber ich glaube, Sie haben Recht. Im Sommer wird es hier wesentlich schöner sein.«
Während Warwick sie anlächelte, zog er ein Päckchen aus einer Satteltasche und reichte es ihr. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Es ist mir in St. Thomas über den Weg gelaufen, und ich fand es so passend für Sie, dass ich einfach nicht daran vorbeikonnte.«
Das Päckchen war weich und recht schwer. Der Segeltuchstoff, in den es eingeschlagen war, wies zahlreiche Schmutzspritzer auf.
Jaqueline starrte Warwick entgeistert an. Noch gestern wäre sie überglücklich gewesen, ein Geschenk von ihm zu erhalten, doch nun machten sich andere Empfindungen in ihr breit. Ihr Magen krampfte sich zusammen, während sie nur denken konnte: Er hat es wahrscheinlich von meinem Geld gekauft. Dem Geld, das ich von den Petersens erhalten habe, um mir ein neues Leben aufzubauen.
»Was ist?«, fragte Warwick verwundert.
Jaqueline rief sich zur Ordnung. Du darfst dir nichts anmerken lassen!, mahnte ihre innere Stimme. Wahrscheinlich glaubt er, dass du den Verlust des Umschlags noch nicht bemerkt hast. In dem Glauben solltest du ihn lassen.
»Ich ... Ich bin vollkommen überwältigt.« Jaqueline zwang sich zu einem Lächeln. »Ich hätte nicht gedacht -«
»Dass ich Ihnen etwas schenken würde?« Warwick lachte auf. »Mein Haus mag zwar ein wenig marode wirken, aber meine Manieren sind es nicht. Machen Sie es auf, ich möchte wissen, ob ich damit ins Schwarze getroffen habe!«
Jaqueline zögerte einen Moment, bevor sie die Schleife löste. Unvermutet purzelte ihr eine Pelzstola entgegen. Sie war braun und weiß und das Weichste, was sie je in den Händen gehalten hatte.
»Damit Sie es bei unserer bevorstehenden Reise durch die Wildnis warm haben«, erklärte Warwick, während er sie gespannt ansah.
Jaqueline fiel es schwer zu atmen. Der Zorn würgte sie derart, dass sie ihre Maskerade beinahe vergessen hätte. Dann erinnerte sie sich an die Besucherinnen früherer Ballgesellschaften. Deren - mitunter auch falsche - freundliche Mienen versuchte sie nun nachzuahmen.
»Was für ein wunderschönes Stück!«, rief sie aus und brachte es sogar fertig, Warwick um den Hals zu fallen. »Haben Sie vielen Dank. Bei meiner nächsten Wanderung werde ich die Stola gleich einweihen.«
Warwick lächelte erfreut. »Fürs Abendessen ist auch gesorgt«, erklärte er
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