Im Land des Silberfarns: Roman (German Edition)
zu vermeiden?«, fragte sie verwundert nach. »Welche Jahreszeit herrscht denn dort, wenn wir ankommen?« Heimlich verfluchte sie sich, dass sie sich mit diesen Dingen nicht früher beschäftigt hatte. Aber bis vor zwei Tagen hatte sie nicht einmal gewusst, wo dieses Neuseeland eigentlich lag …
»Frühling. Wenn wir Neuseeland erreichen, wird alles blühen. Aber leider tragen die ›Roaring Forties‹ und die ›Stormy Fifties‹ ihren Namen zu Recht. In dieser Gegend der Welt kann es durchaus mal etwas ungemütlich auf See werden.« Dass er keine zwei Tage zuvor erklärt hatte, man müsse genau jetzt in See stechen, um diese Stürme zu vermeiden, schien ihm entfallen zu sein.
Stirnrunzelnd wandte Anne sich ab. Wenn es nicht das Wetter war – was hatte Ardroy dann so zur Eile getrieben? Ganz offensichtlich war es später im Jahr durchaus gemütlicher im Pazifik. Sie sah ein paar Möwen hinterher, die mit dem Schiff mitsegelten, als wäre es nur eine Vergnügungsfahrt. Kein Wunder. Sie konnten jederzeit umkehren.
10.
Die ferne Küste bestand nur aus einem hellen Strich. Wüste, so weit das Auge reichte. Ein Schweißtropfen rann Anne langsam die Schläfe hinunter, lief an ihrem Hals entlang und sammelte sich mit anderen Tropfen in der Mulde über ihrem Schlüsselbein. Sie wedelte sich mit der flachen Hand etwas Luft zu – aber die kleine Bewegung sorgte nur für einen weiteren Schweißausbruch, ohne auch nur im Geringsten für Linderung in der Hitze zu sorgen.
Sie waren jetzt seit acht Wochen unterwegs. Nichts unterbrach den immer gleichen Ablauf der Tage, die nur durch den Wechsel der Steuerwachen und Auf- und Untergang der Sonne irgendeine Ordnung erhielten. Die Küste der Südspitze Indiens, die dort am Horizont langsam vorbeizog, kündete auch nicht von großen Abenteuern. Vor allem würden sie nicht wieder an Land gehen, bevor sie nicht Malaysien erreichten. Ardroy hatte vor wenigen Tagen seine Vorräte an Wasser und Essen aufgefüllt, die Lagerräume der Mary May waren jetzt bis oben hin mit schwarzem Tee gefüllt. Offensichtlich waren die Siedler in Australien und Neuseeland allesamt darauf versessen.
Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Reling, starrte in die träge schäumende Gischt, die die Mary May auf ihrem Weg durch die Wellen entstehen ließ. Das Meer sah nicht einmal erfrischend aus, es war einfach nur warm und salzig. Anne seufzte. Was sich wie eines der größten Abenteuer des Jahrhunderts anhörte – nämlich die Auswanderung nach Neuseeland –, war jetzt in diesem Augenblick erst einmal nur langweilig. Und ihr Verlobter hatte seit dem Abschied von England nur das Nötigste mit ihr gesprochen. Anfangs hatte Anne sich selbst eingeredet, er mache das nur aus Respekt vor ihr. Wollte seiner Verlobten nicht unziemlich vor der Hochzeit nahe kommen.
Inzwischen war sie sich sicher, dass er keine Sekunde an ihr interessiert war. Alles, was er sich wünschte, war ein echtes englisches Mädchen als Mutter seiner Kinder. Er wollte nichts von ihren Gedanken oder Ängsten wissen. Oder gar von ihren Hoffnungen für die neue Heimat. Zu allem Überfluss durfte auch niemand aus der Mannschaft mit ihr reden. Also verbrachte Anne endlose Stunden an Deck, in denen sie nichts anderes zu tun hatte, als den Wellen zuzusehen und sich über das seltene Auftauchen einer Schule Delfine wie ein kleines Kind zu freuen. Oder der Arbeit der Matrosen – sie hatte inzwischen das Gefühl, jeden Handgriff so gut zu kennen, als hätte sie ihn selbst getan. Das Setzen und Reffen der Segel, die Arbeit des Steuermannes … es waren die ewig gleichen Abläufe. In der Eintönigkeit hatte sie sogar gelernt, die Knoten wie ein echter Seemann zu schlagen. Sie seufzte. Hoffentlich hatte sie wenigstens in diesem Kororareka Glück und freundete sich mit einer Nachbarin an. Auf Dauer würde sie dieses Schweigen nicht aushalten.
Ihr Blick fiel auf einen der Matrosen. Jung und gut aussehend, warf er ihr immer wieder verstohlene Blicke zu. Seine blitzenden Augen verrieten Neugier und einen schnellen Verstand. Ein Gespräch mit ihm war sicher eine Erholung für ihren Geist, der sich nach irgendeiner Art von Abwechslung sehnte. Aber sie ahnte, dass Ardroy nicht einmal ein kurzes Gespräch für statthaft hielt. Also setzte sie ein abweisendes und hochmütiges Gesicht auf, wann immer er in ihrer Nähe auftauchte.
Doch dieses Mal schien er sich davon nicht abschrecken zu lassen. Er schlenderte über das Deck in ihre Nähe, ergriff
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