Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
Gehalt betrug 425 Mark.
Mit dem Sputnik fuhren all jene vom Theater, die in Berlin wohnten, außer mir Heide Kipp, Jürgen Gosch, Thomas Langhoff, Günter Junghans, Damen vom Ballett, Bühnenbildner und Autoren. Zweimal täglich eine Stunde Fahrt Berlin-Potsdam-Berlin, das schweißt zusammen. In diesem Regionalzug lernten wir ganze Rollenbücher auswendig, wir machten Durchsprechproben und Schachturniere, debattierten Vorschläge für Stücke, lasen Krimis, tratschten und schliefen, es gab auch Skatkurse, denn Skat spielen zu können war Bedingung für jedes fahrende Theatermitglied, und die Fußballergebnisse des Wochenendes zu kennen ebenfalls Pflicht. Thomas Langhoff besaß ein kleines Kofferradio, an dem hingen wir wie am Tropf, hörten die Theaterkritiken von Friedrich Luft aus dem Westen, manchmal berichtete er auch etwas über ein Ostberliner Theater.
Im Winter hatten wir unsere Wärmfläschchen mit Adlershofer Wodka in der Tasche und kamen entsprechend heiter im Theater an. Der Fahrplan war eher eine Empfehlung als bindend. Wir formulierten eine der üblichen Ansagen um in »Reisende in Richtung Potsdam laufen bis Ostkreuz vor und fallen dort um«. War 10 Uhr Probe angesetzt, fuhr ich meist schon mit dem 7.30-Uhr-Zug, um garantiert pünktlich im Theater zu sein. Zuspätkommen war peinlich, dennoch trafen die Berliner häufig morgens als Letzte auf der Probe ein, und am Abend gingen sie als Letzte, weil sie nicht zu lange auf dem zugigen Bahnsteig auf den Zug warten wollten. Fiel der aus, verbrachten wir lustige Nächte bei den Potsdamer Kollegen oder in der Kantine, und dann – ja, dann waren wir Berliner morgens die Ersten.
Manchmal schliefen einige von uns bei Mutter Michaelis, der Wirtin von Jutta Wachowiak und Arno Wyzniewski, dem Traumpaar des HO , wie wir unser Theater nannten. Mutter Michaelis hatte genug Platz. Oder Mike Gerber und Renate Usko beherbergten uns in ihrer Altbauwohnung, die direkt neben dem Theater lag. Nicht selten fand ich mich mit einem Kollegen auf einer dieser Gastliegen, rollte mich, so gut es ging, zusammen und verdrängte Gedanken an dies und das. Auf der morgendlichen Probe fit zu sein war wichtiger als eine durchliebte Nacht.
In Sommernächten verpassten wir oft den Zug, die Proben zu lang, die Euphorie zu groß, die Gespräche zu laut, der Sputnik-Fahrplan aus dem Kopf. Das waren die Schwenzer-Nächte. Schwenzer hieß der Wirt der Theaterkantine. Er blieb so lange, wie wir trinken wollten, denn er wollte verdienen. Das klappte aber nicht immer. Siggi Höchst erfand den FA , französischen Abgang, das heißt, die Männer gingen irgendwann einzeln aufs Klo, entfernten vom Fenster der Toilette einen Eisenstab und kletterten raus. Wir Frauen saßen da, taten so, als warteten wir, behaupteten auf Nachfrage von Herrn Schwenzer: »Stellen Sie sich vor, der hat meine Geldbörse mitgenommen!« oder »So eine Gemeinheit, dem hab ich schon was geborgt ...« und was der blöden Ausreden mehr sein können. Da war eben die Kunst des Schauspielens gefragt. Herr Schwenzer blieb gelassen. Manchmal bezahlten die Männer das erste Bier, um den Eindruck zu erwecken, sie hätten an dem Abend genug Geld; manchmal hatte auch Frau Schwenzer Dienst, die nicht wusste, wie viel man ihnen schuldete. Am Monatsende war die Rechnung doch fällig, und wenn das Geld vom Gehalt abgezogen wurde.
Wir schliefen in den Garderoben oder im Frauenruheraum, einem Zimmer mit Liege, das für jeden größeren Betrieb gesetzlich vorgeschrieben war. Einmal, es war im Hochsommer, holten wir Decken aus dem Theater und richteten uns unter der ausladenden Tanne auf dem Theater-Vorplatz ein. Um neun Uhr konnten wir die Kantine stürmen, Kaffee trinken. Wir aßen ein trockenes Brötchen, rauchten die erste Zigarette. Wer mehr brauchte, war eigentlich schon ein Spießer.
Nicht nur, weil im Sputnik die Aufführungen der Berliner Theater diskutiert wurden und ich mitreden wollte, ging ich an spielfreien Abenden ins Theater. Meine Ausgehuniform: Faltenrock und Blüschen für die Oper, eine gute Hose mit Weste für die Sprechbühne. Damals legte man noch Wert auf schicke Kleidung an einem solchen Abend. Heute ziehen sich viele Leute an, als gingen sie zum Fußball oder einkaufen. Offenbar ist für sie Theater nichts Besonderes, auch wir und unsere Kunst sind dann wohl nichts Besonderes. In der Oper geht es noch einigermaßen traditionell zu, da mokieren sich Leute, wenn jemand zu leger angezogen ist. Aber im Sprechtheater
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