Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
agieren. Ich spielte also Max und Ella Gericke immer im Wechsel, von der Kindheit bis zum 66. Lebensjahr, zog mich hautnah am Publikum um, was ich noch nie zuvor getan hatte. Saß in Unterwäsche zwischen den Leuten, träumte von einem Kind, spielte eine Entbindung, dabei saßen die Zuschauer sozusagen an meinem Bett. Ich trank, am Tisch sitzend, Bier bis zum Exzess, drosch einen brutalen Skat zu viert im Alleingang. Ich weinte, brüllte, flötete, grölte. Die Scham war überwunden. Diese Rolle hat etwas in mir freigelegt, das ich zuvor nicht für möglich gehalten hätte. Dafür bin ich Konwitschny unendlich dankbar. Seine Anforderungen waren gewaltig, groß aber auch sein Vertrauen in mich. Eine solche Herausforderung vermisse ich heute manchmal.
Obwohl Jacke wie Hose nach einer sensationellen Premiere gut lief, wurde es wegen des aufwendigen Bühnenbildes bald abgesetzt. Ich aber hatte zum ersten Mal einen Abend allein gestemmt, wie wir es am Theater ausdrücken, das war einfach wunderbar. Und ich hatte einmal mehr begriffen, was es heißt, gutes Theater zu machen.
In Bochum spielte zeitgleich Lore Brunner das Stück unter Manfred Karges Regie. Wir planten einen Austausch, aber dann kam Lore ohne Stück und ohne Karge, nur als begeisterte Zuschauerin. Ich durfte nicht nach Bochum fahren. Erst nach der Wende zeigten Lore und Manfred bei uns am BE die Bochumer Aufführung.
1991 inszenierte John Maybury den Stoff als Film unter dem Titel Man to Man mit Tilda Swinton in der Hauptrolle.
Blicke ich zurück auf die Zeit am Berliner Ensemble, sehe ich mich in drei Etappen: In der ersten bin ich nur leidenschaftliche Zuschauerin, in der zweiten ein Mitglied des Ensembles unter etlichen Regenten, in der dritten Schauspielerin unter Claus Peymann. Aber davon später. Und untrennbar mit dem BE verbunden: Ekkehard Schall. Er war der einmalige erste Arturo Ui, ein unvergleichlicher Coriolan, ein brillanter Eilif – seinen artistischen Säbeltanz vergesse ich nicht. Ekke, der Perfektionist, verkörperte den wahren Brecht-Schauspieler seiner Zeit, er bot Welttheater.
Ganz anders, lyrischer, leiser, Hilmar Thate. Auch er nicht gerade ein Hüne, eher ein »Napoleon«, aber ich mag das Kraftvolle dieser kleinen Männer. Beide standen bei all ihrer Unterschiedlichkeit für das Poetische, die Präzision, das Gefühl, die Technik und die Perfektion, die Brecht-Texte und Brecht-Lieder verlangen.
An Ekke Schall faszinierte mich seine Sprechtechnik: Er sprach rasend schnell und dabei sehr deutlich. Mir schien es, als forme er jeden Buchstaben im Mund und genieße das. Bei keinem anderen Schauspieler habe ich Endsilben, Konsonanten und Betonungen so deutlich gehört wie bei ihm. Brecht hatte ihn 1952 an sein Theater geholt, er war mit Brechts Tochter Barbara verheiratet, so hat er den Meister persönlich gekannt, wusste, wie er interpretiert werden wollte. Ekkes verschmitzten Brecht-Anekdoten hörte ich gern zu. Brecht sei unerbittlich und fordernd gewesen, präzise bis zur Pingeligkeit, aber viele dieser Anmerkungen wurden durch Ekke zur Basis unseres Spiels.
Durch Schall bin ich auf Brecht-Texte neugierig geworden, zumal er immer neue, auch unveröffentlichte Texte und Vertonungen mitbrachte. Angespornt durch ihn, begann ich das Körper-Stimm-Training am BE . Er war es auch, der mich ermunterte zu singen. Und er bläute mir ein: »Wenn du nicht spielst, also frei hast, musst du üben und lesen – immer.« Ich habe das getan, obwohl ich den Wahrheitsgehalt seiner Worte erst später schätzen gelernt habe.
Bevor das Berliner Ensemble nach der Wende zum zweiten Mal in andere Hände gehen sollte, sagte Schall: »Der Etikettenschwindel beginnt, ich gehe.« Mir hat seine Haltung imponiert. Er ging leise, und wer da ging, begriffen die wenigsten. Jeder ist ersetzbar – eine Feststellung nicht ganz ohne Trauer.
Verbotene Filme
Die Partei in dem gewesenen Land verbot nicht nur Bücher, sondern auch Filme und Theateraufführungen. Wurde eine Inszenierung beanstandet, diskutierten wir am Theater lange und heftig über diese Verbote einzelner Passagen. Regie und Dramaturgie zeigten sich gegenüber der Partei erstaunt, sprachen von dramaturgischen Finten, die leicht auszubügeln seien, sie konnten sich herauswinden mit allerlei Tricks. Wir entfernten kurzzeitig Textstellen, die wir bei der Premiere wieder aufnahmen. Meist erfuhren wir erst spät, was denn genau kritisiert worden war, manches Mal lagen wir völlig schief mit unseren
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