Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
tappte der große, starke Kerl auf die Bühne, stand da wie ein unerschütterlicher Fels in der Brandung und sprach seine klaren, vernichtenden Worte gegen den Tyrannen.
Bis dahin waren wir uns nur bei Fernsehproduktionen begegnet. Ich wusste, dass man von seinem unvergleichlichen Mackie Messer schwärmte, kannte viele Geschichten von Kollegen über ihn, über seine enorme Präsenz. Und nun lernte ich ihn ganz anders kennen, weich, fast wie eine zarte Diva. Fernsehen und Theater beschäftigten ihn nicht mehr. Nie mehr arbeiten zu können, Rente zu beziehen, ohne zu spielen war seine größte Sorge. Regisseur Christian Petzold sagte einmal über ihn: »Wenn Schauspieler von seiner Qualität keine Angebote bekommen, erkranken sie an Verzweiflung.« Er sollte damit recht behalten.
Der Theresias war Kaisers letzte Theaterrolle – ausgerechnet in der Schweiz. Dort war er aufgewachsen und hatte studiert. Als er in Berlin lebte, besuchte er häufig seine Mutter, die in der Schweiz geblieben war. 1978 spielte er in dem Wiedertäufer-Drama Ursula mit, einer DDR -Co-Produktion mit der Schweiz, wofür er in der DDR in Ungnade fiel.
Als ich hörte, dass er sich vier Tage vor seinem 76. Geburtstag aus einem Fenster seiner Wohnung in der Friedrichstraße gestürzt hatte, war ich fassungslos und bestürzt. Das war 1992. Bald danach starb seine Frau Biene, und nun liegen sie beide auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, wie so viele meiner geliebten Kollegen. Auch er gehört in das Schatzkästlein meiner Theaterarbeit.
Aber damals, in Chur, spielten wir mit Leidenschaft Theater, tranken köstlichen Wein, versuchten, in den Graubündener Bergen zu jodeln.
Brechts Texte nach Sophokles hatten mich schon lange zuvor interessiert; Antigone, diese mutige kraftvolle Frau, ihren Kampf um Freiheit darzustellen und das nach der Weigel, das war eine große Aufgabe für mich.
Die Regie von Bennewitz hielt sich weitgehend an Brechts Vorgaben, vielleicht war sie ein bisschen brav, aber der Text wirkte in jener Zeit unglaublich brisant. Bennewitz betonte, wie auch schon Brecht, die Männer- und die Frauenwelt: Die Männer trugen Lederstiefel, wir Frauen liefen barfuß; der Chor bestand aus vier Männern in Militärmänteln mit Orden. Etwas verstörend wirkte wohl das Bühnenbild, eine Art gläserne Pyramide, der Rand von Schädeln übersät – Symbiose der Stadt als Ort des Lebens und des Schlachtfeldes als Ort des Sterbens.
Der Direktor des Stadttheaters, Georg-Albrecht Eckle, ein Theaterbesessener und Opernliebhaber, hatte rund um die Premiere Veranstaltungen organisiert: ein wissenschaftliches Symposium, eine Thomas-Bernhard-Lesung mit Walter Schmidinger, an einem Abend sang ich mein Brecht-Programm.
Die Premiere Mitte April war eine kleine Sensation, und jede Vorstellung spielten wir vor ausverkauftem Haus.
Es war aufregend, das ganze Frühjahr in der Schweiz arbeiten zu können. Ich flog nur dreimal zu Vorstellungen am BE nach Hause.
Wolf Kaiser logierte oben auf dem Berg in einer Wohnung. Wir anderen, also die gesamte Schauspieltruppe, auch Regisseur Fritz Bennewitz, wohnten im Plankis, einem Wohnheim der Hosang‘schen Stiftung für junge Menschen mit geistiger Behinderung. Die Bedingungen sind ideal, nicht vergleichbar mit einem unserer Heime. Zur Stiftung gehören ein wunderschönes Wohnhaus, ein großer landwirtschaftlicher Betrieb, eine öffentliche Caféteria mit Kinderspielplatz. Die Bewohner erlebten wir morgens und abends; ihre lauten Äußerungen strengten uns zwar zusätzlich an, brachten aber auch etwas Bodenständiges in unsere Theaterwelt.
Für uns hatte das etwas von Ferienlager, und dieser Zusammenhalt förderte unsere sehr saubere, sehr naive, sehr anrührende Arbeit auf der Bühne. Wir lernten uns kennen, kochten zusammen, feierten auf dem Marktplatz in Chur den 1. Mai mit Schweizern, Kurden, Irakern. Ich hatte eine DDR -Fahne mitgebracht, und wir amüsierten uns, weil etliche Leute nach der Bedeutung dieser Flagge fragten.
Das Plankis bot außerdem den Vorteil, preiswerter zu leben als in einem Hotel. Meine Gage war zwar ein wenig lukrativer als die zu Hause, aber die Hälfte bekam die Künstleragentur der DDR . Ich sparte so viel Geld wie möglich, um meiner Familie Wünsche zu erfüllen. Spiele zum Beispiel. Den Fernseher brauchten wir nur als Informationsquelle, ansonsten vergnügten wir und unsere Freunde uns mit Dame, Mühle, Halma, mit Märchenland, Malefiz, Uno und Memory. Monopoly interessierte meine
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