Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
Sie hatten mit Eifer Plakate gebastelt: Meine Tochter hatte »Budjet« (Russisch: es wird) auf ihr Plakat gemalt, mein Sohn »Radikale Wende oder Ende«. Ich trug, wie alle meine Kollegen, die Anti-Gewalt-Schärpe, und wir liefen mit dem Berliner Ensemble in der ersten Reihe. Endlich bekam das Wort Klassenkampf für uns einen lebendigen Inhalt.
Als wir loszogen, beschimpften mich Nachbarn: »Wie können Sie nur Ihre Kinder mitnehmen, wenn Sie schon so unvernünftig sind!« Man sah in etlichen Fenstern Neugierige, die zu Hause blieben. Doch in der S-Bahn drängten sich die Menschen, die Stimmung war heiter, es gab politisches Gefrotzel zwischen Demonstranten und anderen Fahrgästen.
Wir Theaterleute starteten an der Friedrichstraße. Aus allen Himmelsrichtungen schlossen sich uns Tausende Menschen an. An jedem 1. Mai zuvor hatten die Medien von einer »machtvollen Demonstration« gejubelt – an diesem 4. November war sie wirklich machtvoll.
Menschenansammlungen sind mir ein Gräuel, an diesem Tag dabei zu sein, war mir ein Bedürfnis, ich glaubte wirklich, jetzt können wir das Land verändern, jetzt wird alles gut. Meine Kinder staunten: Keine Arbeiterlieder, die ohnehin nie jemand singen wollte, keine Fahnen, keine winkenden alten Männer auf einer Tribüne, nichts Militärisches – sie spürten nur Stolz an der Seite ihrer Eltern.
Für die ungezählten Transparente, schnell auf Laken gepinselt oder professionell gestaltet, hätte es einen Tag zuvor noch drei Jahre Knast gegeben. Über viele Transparente und Sprüche haben wir herzhaft gelacht, unglaublich, was sich die Menschen ausgedacht hatten. Kollegen mit unseren grün-gelben Schärpen fungierten als Ordner, wobei sie eigentlich gar nichts zu ordnen hatten. Es ging absolut still und friedlich zu. Es gab einen neuralgischen Punkt bei dem Demonstrationszug am Palast der Republik: entweder geradeaus zum zugemauerten Brandenburger Tor oder links herum zum Alex. Keiner ging geradeaus, die Mauer fiel erst fünf Tage später.
Und dann sprachen zwanzig Redner. Sie stiegen auf ein provisorisches Podium, das auf einem Lkw-Anhänger zusammengezimmert worden war. Die Masse lauschte interessiert, amüsiert, enthusiasmiert.
Drei volle Stunden dauerte das, und der Applaus war das Stimmungsbarometer: Markus Wolf, bis 1986 Generaloberst des MfS und »Mann ohne Gesicht«, wurde ausgepfiffen, ebenso der Berliner Parteichef Günter Schabowski, der für den kurz zuvor gewählten Egon Krenz warb.
Orkanartigen Beifall bekamen hingegen Heiner Müller, Christa Wolf, Ulrich Mühe, Johanna Schall. Johanna sagte später, dass sie nach diesem euphorischen Tag voll Disziplin und Anarchie nie wieder so viele wunderbare, stolze Deutsche gesehen habe. Mir gefiel Christoph Heins Rede am besten, der warnte: »Noch ist die Kuh nicht vom Eis!«
Als Letzte sprach Steffie Spira, die gegen die Uniformierung unserer Kinder wetterte und mit einem Zitat aus Brechts Lob der Dialektik endete: »Aus Niemals wird: Heute noch!«
So viel Solidarität wie an diesem 4. November hatte es in der DDR noch nie gegeben. Tausende Menschen bekundeten friedlich, dass sie in einer Demokratie leben wollten, in einem sozialistischen Staat mit menschlichem Antlitz – das war gewaltig. Und einmalig.
Am 9. November besuchte ich gleich nach der Theaterprobe eine Elternversammlung in Jennys Schule. Danach traf ich mich mit einer Freundin, wir wollten im Berolina Hotel ein Sektchen trinken. Wir wunderten uns über die seltsame Stille und Leere in der Stadt, witzelten, die sind wohl alle zu Hause und denken nach. Da sagte der Kellner: »Mädels, ich mache zu, es gibt heute nichts zu trinken, der Westen ist auf.«
Wir gingen sofort heim. Mein Mann saß schlafend im Sessel, das aufgeklappte Buch auf den Knien. Selbst Jacob schlief schon, am nächsten Tag stand eine Mathearbeit an. Überall Stille, drinnen und draußen. Ost-Berlin war unterwegs in eine Richtung, die es bis dahin nicht gegeben hatte. Ich weckte meinen Mann. Wir schalteten den Fernseher an. Die Mauer war geöffnet. Niemand wusste, für wie lange. Am nächsten Tag fuhren wir vier zum Ku’damm.
Wir haben bei der Erziehung unserer Kinder Wert darauf gelegt, dass sie kritisch in die Welt sehen. Ihnen diesen gesellschaftlichen Umbruch zu erklären war also kein Problem. Wir haben zu Hause immer offen über Politik gesprochen, und mein Mann hatte längst die Menetekel gesehen.
Nur die Schulen taten sich schwer mit der neuen Situation. Gestern wurde
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