Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
Carmen-Maja Antoni vom Berliner Ensemble als Antigone und Wolf Kaiser als Tiresias.«
Die Schweizer Kollegen aber waren aufgewühlt von diesen Reaktionen, so etwas hatten sie noch nie erlebt. An diesen Abenden spürten sie: Das ist reales politisches Theater.
November ’89
Das Wort Wende finde ich unpassend, ich mag es nicht. Einschnitt, große Veränderung, Verwandlung ja ... aber das Richtige fällt mir auch nicht ein.
Unruhe war mit Riesenschritten ins Land gekommen, wir alle hatten Lust, die Welt zu verändern. Am 10. September gründete sich das Neue Forum und rief zu einem demokratischen Dialog zwischen Staat und Gesellschaft auf. Darauf folgten Versammlungen, Statements, Resolutionen, offene Briefe und Willenserklärungen. Im Deutschen Theater begann es, die Lawine rollte los, und bis Anfang Oktober hatte sie alle Theater erfasst. Ich will hier nicht aufzählen, wo und wie oft wir uns getroffen haben, fast täglich war ich mit Kollegen unterwegs.
Am 15. Oktober versammelten sich in der Volksbühne am Luxemburgplatz etwa 800 Theaterleute, jedes Ostberliner Theater war vertreten. Ich glaube, es war Jutta Wachowiak, die auf Initiative des Neuen Forums vorschlug, offiziell eine Demonstration zu beantragen – ein Vorgang, der bis dahin in der DDR unvorstellbar war. Wir wollten freiwillig auf die Straße gehen, um für demokratische Wahlen, für Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit zu demonstrieren. Unser Unmut sollte eine Form bekommen. Es war ja nicht so, dass wir die ganze Zeit in der DDR in Duldungsstarre verharrt hatten, wir wollten natürlich mit unserer Kunst etwas erreichen. Ich denke, wir konnten den Zuschauern so manches Mal Mut machen, wenigstens für einen Abend. Da es keine Pressefreiheit gab, übernahm vielfach das Theater Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen. Die Häuser waren allabendlich rappelvoll, und wir spürten am Applaus, dass die Leute begriffen, was zwischen den Zeilen erkennbar war. Zum Beispiel hatte Alejandro Quintana 1988/89 Der gute Mensch von Sezuan inszeniert, wo ich die Shen Te spielte. Das Publikum verstand plötzlich Szenen dieses Stückes ganz anders, bezog Situationen und Texte auf die damalige Situation in der DDR , und es klatschte an Stellen, an denen es früher und auch heute still blieb. »Bedenkt, die Zeiten sind nicht die besten.« Oder: »In unserem Land dürfte es keine trüben Abende geben.« Oder: »Ich möchte eine kleine Herabminderung der Vorschriften, eine kleine Erleichterung des Ballens der Vorschriften in Anbetracht der schlechten Zeiten.« Oder »Hier können nur noch die Götter helfen.« Das war Wasser auf unsere Mühlen, bei solchen Sätzen raunte das Publikum hörbar, lachte und applaudierte wie verrückt.
Wichtig war uns allen, dass die geplante Demonstration nicht in Gewalt ausartete. Mit Entsetzen hatten wir alle im West-Fernsehen das Massaker in Peking gesehen. Deshalb verabredeten wir, gelbgrüne Schärpen zu tragen mit der Aufschrift »Keine Gewalt«. Sie mussten schnell her und durften nicht viel kosten. Roland Gawlik, Solotänzer an der Staatsoper Unter den Linden, ließ sie in den dortigen Werkstätten im Eiltempo anfertigen. Am Treffpunkt bekam jedes Berliner Theater eine Kiste mit Schärpen.
Die Stimmung in der Stadt war einmalig, überall spürten wir Aufregung, waren selbst aufgeregt. Die Solidaritätswelle der Theaterleute hatte alle erfasst, das Gefühl, etwas zu tun, verband uns. Dieser Mut der Künstler, sich zu Wort zu melden für das Land, erfüllte auch mich mit Stolz. Etwas war in Gang gekommen, was nicht mehr aufzuhalten war und nach einer Lösung drängte.
In unserer Familie diskutierten wir jeden Tag heftig. Meine Kinder brachten aus der Schule Spukgeschichten mit über die aufmüpfigen Künstler und die anderen »Störenfriede«. Jeden Abend nach den Nachrichten ging es hoch her bei uns, wir riefen Freunde an, besuchten uns gegenseitig und diskutierten die Nächte durch. Das waren die besten politischen Gespräche, die ich je geführt hatte.
Und dann war es so weit. Unser Kollege Wolfgang Holz hatte offiziell die Kundgebung für den 4. November angemeldet – die erste nicht von oben verordnete, genehmigte Demo. Es war ein Samstag, das Wetter grau, kühl und trocken, und schon am Morgen waren der Alexanderplatz und die umliegenden Straßen schwarz von Menschen; eine halbe Million oder mehr sollen es gewesen sein.
Meine Kinder wollten unbedingt mit demonstrieren. Jenny war dreizehn, Jacob sechzehn Jahre alt.
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