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Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)

Titel: Im Leben gibt es keine Proben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Biermann
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natürlich nicht auswendig aufsagen können, man sollte ihn aber sehr gut kennen, damit der Blick zu den Zuhörern wandern kann.
    In den siebziger Jahren erschien in der DDR ein kleines Buch von Franz Loeser, das mir sehr geholfen hat: Rationelles Lesen . Ich bin ein optischer Mensch, insofern kamen mir Loesers Empfehlungen entgegen. Die Methode funktioniert, jedenfalls bei mir. Man fotografiert den Text mit den Augen von oben links nach unten rechts. Damit kennt man die gesamte Seite, also bei einem Theaterstück sowohl den eigenen Part als auch den der Kollegen. Habe ich den Text »fotografiert«, spreche ich ihn immer wieder, indem ich laut deklamierend durch die Wohnung laufe, immer hin und her.
    Klassiker zu spielen ist wundervolle Pflicht. Das in letzter Zeit Schwierigste, aber auch das Interessanteste war für mich die Rolle der Daja in Lessings Nathan der Weise . Diese alte Sprache muss man so in den Mund nehmen, dass sie jeder versteht, denn es gibt darin merkwürdige Konstruktionen und sperrige Sätze: »Ihr Vater ladet Euch nun selber bald/Aufs dringlichste. Er kömmt von Babylon./Mit zwanzig hochbeladenen Kamelen. Und allem, was an edeln Specereien,/An Steinen und an Stoffen, Indien/Und Persien und Syrien, gar Sina,/Kostbares nur gewähren.« Und ungewöhnliche Wörter: »Itzo, wie es jetzo ist« – was bedeutet: Es war heute.
    Dabei geht es weniger um Spiel als vielmehr um die Sprache. Und die muss man erst mal in seinen Kopf kriegen.
    Vor Drehtagen, Auftritten, besonders aber vor Liederabenden bin ich fast hysterisch, was die Stimme anbelangt. Ich trau mich schon lange nicht mehr zu rauchen. Ich habe eine Zeitlang geraucht, fürchtete mich aber immer vor den Abenden. Also habe ich es wieder gelassen. Ich lutsche Emser Salz Pastillen, esse Honig, trinke dann keinen Alkohol, nur warme Getränke, rede möglichst wenig, weil ich Angst habe, es passiert was mit der Stimme, ich bin ja keine geschulte Sängerin. Mich rettet die Technik und dass ich gelernt habe, mich zu konzentrieren. Wenn man seinen Text im Schlaf beherrscht, kann man locker mit einem Hänger umgehen. Bleibe ich beim Singen wirklich mal stecken, entschuldige ich mich oder dichte eben eine Zeile. Es ist auch schon vorgekommen, dass ich im falschen Lied war. Dann bitte ich den Pianisten: »Entschuldige, das war nichts, kannste noch mal anfangen, bitte!« So etwas nehmen die Leute ganz freundlich auf.
    Im Berliner Ensemble spielte ich manchmal in bis zu zwölf Stücken: im Nathan , die Courage , im Schwejk und in der Kleinbürgerhochzeit , in Thomas Bernhards Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen und in Tschechows Kirschgarten , dazu der Brecht-Liederabend mit Manfred Karge. Das schafft man nur durch Training, mit Disziplin und Konzentration.
    Schwierig ist es, wenn vormittags ein neues Stück geprobt wird und ich abends eine Vorstellung habe. Und es wird immer schwieriger, je näher die Premiere rückt. Dann brauche ich am Nachmittag Ruhe, um mich auf den Abend zu konzentrieren.
    Wenn irgendwas dazwischenkommt, wird es eng. Wie im Winter 2012, als ich in Augsburg an einem Abend mit Brecht-Liedern aufgetreten bin, am nächsten Morgen der Flieger nach Berlin drei Stunden Verspätung hatte und mir nur kurze Zeit zu Hause blieb, um mich auf die Abendvorstellung, es war der Nathan , vorzubereiten. Da hilft nur heiß duschen, zwanzig Minuten aufs Bett legen und gar nichts denken, den Kopf leeren für die Rolle. Ist die Vorstellung ausverkauft, der Saal also richtig voll, dann steigt der Adrenalinspiegel, und alles wird gut.
    An Tagen, an denen nur abends Vorstellung ist, liegt neben dem Frühstückskaffee das Rollenbuch. Das gehe ich einmal komplett durch. Laut. Eineinhalb Stunden etwa dauert diese sogenannte Italienische Durchsprechprobe. Beispielsweise die Courage : »Guten Morgen, Herr Feldwebel. Papiere? Meine Lizenz ist mein anständiges Gesicht. Ich lass mir keinen Stempel draufsetzen ...« und so weiter und so fort. So schiebe ich meine Rolle durch bis zum Ende.
    Die fortwährende Freude und Belastung durch große Rollen, die übt und prägt. Hat man eine große Rolle, muss man ein ganzes Stück, das gesamte Ensemble ziehen. Da haben zwanzig Kollegen nur drei Sätze zu sagen, die ödet es vielleicht an, dafür ins Theater zu kommen, stundenlang rumzusitzen für wenig Applaus. Ich schätze die Kollegen auch in ihren kleinsten Rollen, lasse ihnen Platz für ihren Part und erwarte dafür, dass sie mir entgegenkommen und mich

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