Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
die ich kurz zuvor der stummen Kattrin versprochen hatte. Auf geheimnisvolle Weise waren sie verschwunden oder jemand hatte vergessen, sie wieder in den Wagen zu stellen. Auf offener Bühne habe ich alles durchwühlt, wobei meine Gehirnzellen schwer arbeiteten, was mache ich zu dem Text: »Die wolltest du doch immer haben!«, was sag ich bloß, um Himmels willen? Ich kann ihr höchstens was von mir schenken. Aber der Schuhkarton mit Seidenpapier und den roten Schuhen hat einen Sinn. Was tun? Die Szene durfte nicht beschädigt werden. Ich war sauer, irgendwas musste jetzt passieren. Ich zog meine derben Schuhe aus, gab sie Kattrin und ging barfuß weiter. Wer das Stück kennt, hat sich sicher gewundert, viele aber dachten wohl, es müsse so sein.
Während einer Aufführung zerknallte einmal die große Wassergallone, die ebenfalls am Wagen hängt. Also gab es nichts zu trinken, obwohl in dem Stück dauernd getrunken werden muss.
Oft ist es dunkel beim Umbau, da passieren die wahnsinnigsten Sachen. Das schwarze Übertuch war in den Speichen festgeklemmt. Die Leuchtschrift leuchtete nicht. Der Wagen fuhr gar nicht, ich hatte vergessen, die Bremse zu lösen. Dieser Planwagen mit seinem Inhalt fordert immer wieder meine ganze Aufmerksamkeit und lässt mich oft über Technik im Einzelnen und im Besonderen nachdenken.
Sagte ich schon, dass die Bühne eine Schräge bildet? Bei den ersten Proben mit diesem Planwagen habe ich schnell begriffen, was es mit Hub und Schub auf sich hat.
Bei einem Gastspiel in Lyon funktionierten Hub und Schub anders als vorgesehen. Wir spielten in einem Amphitheater, hinter uns fiel die Bühne steil ab in einen regelrechten Abgrund, nur eine Barriere diente als Absperrung. Die Abfahrtsschräge war kürzer als die im heimischen Berliner Ensemble. So bot sich mir auch eine andere Sicht auf die Situation als zu Hause. Die Techniker rieten mir zur Vorsicht. Ich probierte einmal, noch einmal, alles schien gut. Doch dann, während der ersten Vorstellung, entglitt mir die Sache mit dem Hub, und ich musste den Schub stoppen, was gründlich misslang. Der Wagen fuhr mir mit voller Wucht in die Kniekehle. Es machte Plop, dann spürte ich einen irrsinnigen Schmerz. Der Meniskus war hin. Das Knie schwoll an, wurde dicker als mein Oberschenkel, ich konnte es kaum noch strecken. Vor mir lagen zwei Vorstellungen und ein Brecht-Programm. Ein Gummistrumpf verhinderte weiteres Anschwellen, Tabletten betäubten immer nur kurzfristig den Schmerz. Ich kann wirklich meine Zähne zusammenbeißen, die beiden Vorstellungen habe ich absolviert. Aber das Brecht-Programm servierte ich auf einem Hocker sitzend; ich hatte angesagt, warum ich nicht mehr stehen konnte, und das Publikum dankte es mir mit Applaus. Eine Woche später wurde ich in Berlin operiert.
In einer anderen Vorstellung, wieder zu Hause am BE , bekam der Schub einen Drall, ein stechender Schmerz pfiff durch meinen Leib, und ich konnte mich nicht mehr aufrichten, blieb irgendwie krumm. Der Rest bis hin zu den Verbeugungen beim Applaus war ein Horrortrip. Am nächsten Morgen ging ich zum Arzt, der schickte mich zum Orthopäden, der zum MRT , ein Bandscheibenvorfall. Es begann ein nerviges Tralala, denn eine Operation lehnte ich ab. Also Physiotherapie, Osteopathie, Kurzwelle, Rückentraining, Schwimmen, haufenweise Schmerztabletten – und auf die Bühne im Korsett. Die Berufsgenossenschaft erkannte den Unfall nicht als solchen an – ich sei schließlich in einem Alter, in dem man mit Verschleiß rechnen müsse.
Auch einen weiteren Unfall mit dem Courage-Wagen verbuchte man unter Verschleiß. Die Luft in den Reifen muss regelmäßig kontrolliert werden, denn bei den Fahrten im Dunkeln und immer wieder die Schräge rauf und runter gibt gelegentlich das eine oder andere Ventil seinen Geist auf. Es geschah während des Schlussbildes, dass einem Reifen die Puste ausging. Der Wagen stand in Startposition, ich zog los, ahnte den Schaden, denn ein platter Reifen bremst enorm. Ich zerrte meine Fuhre heldenhaft eine Runde in Richtung Abgangsschräge, in der irren Hoffnung, die Sache zu retten. Kurz vor der Schräge kam der Wagen jedoch ins Rollen und stürzte die Schräge runter. Ich riss mir das Geschirr von den Schultern und lief ohne Wagen hinab an die Rampe. Die Szene versank im Dunkel, tosender Beifall hub an. Als ich später in die Kantine kam, hörte ich, wie ein Zuschauer sagte: »Toller Einfall, den Wagen runterkrachen zu lassen!« So sieht man das von
Weitere Kostenlose Bücher