Im Leben gibt es keine Proben (German Edition)
unten.
In einer anderen Vorstellung saß ich auf der Bühne, die tote Kattrin im Arm. Oben stand der Wagen in seiner Position. Plötzlich begann er zu rollen, kippte hinten nach unten und knallte dröhnend gegen die Brandmauer. Ich saß da wie vom Donner gerührt. Und nun? Ich überlegte hektisch: Wie teile ich jetzt den Dialog ein? Wie laufe ich die letzte Runde? Wie soll das Stück enden? Ich konnte doch nicht einfach aufstehen und nachschauen. Ich entschloss mich, den Wagen nach oben zu hieven, meinen Text zu sprechen, dann wird der Inspizient das Licht ausmachen – ja, so könnte es klappen. Ich zerrte also mit aller Kraft das Teil mit der festgefahrenen Bremse nach oben in der Hoffnung, dass der Inspizient sah, jetzt läuft die Antoni die eine Runde mit dem Wagen, alles ist wie immer, und er löscht das Licht auf der Bühne. Doch die Szene blieb hell erleuchtet. Mit letzter Kraft schleifte ich den Wagen mit seiner festsitzenden Bremse hinter mir her bis zur Abwärtsschräge, zischte in Richtung Inspizientenpult: »Licht aus!« und nach hinten »Wolle!« Das ist der Techniker, der in allen Vorstellungen zu meiner Sicherheit auf dem Sprung sitzt und trotz seiner Körpermasse zuverlässig reaktionsschnell agiert. Er sprang auf die Schräge, half mir aus den Seilen, hielt den Wagen an, nahm mich bei der Hand und führte mich zum Applaus. Diese Techniker sind einfach großartige Jungs! An dem Abend war ich am Ende meiner Kraft. Nach drei Stunden Spiel eine solche Strapaze, das war, als hätte ich im Laufschritt zwei Kästen Wasser fünf Treppen hochgetragen.
Was ich noch hinzufügen muss: Der Wagen wiegt fast 300 Kilogramm, ich wiege 62 Kilogramm. Ich bin eben die Courage. Und ich glaube an den Spruch: Am Theater krank sein gibt es nicht, nur mit dem Kopf unterm Arm!
Der Rock
Wenn Proben beginnen, werden Kostüme gesucht, die ungefähr den Entwürfen der Kostümbildner entsprechen. Diese Klamotten, tausendmal getragen, hundertfach gereinigt, haben für mich einen gewissen Zauber. Sie riechen nach vielen Menschen, nach Theaterstaub und Bühnenluft. Aufbewahrt werden sie im Fundus. Jedes Theater hat einen, im Berliner Ensemble ist der Fundus unter dem Dach. Es gibt einen weiteren in Berlin-Weißensee, früher hatten wir noch eine Kostümaufbewahrung in den Werkstätten der Staatsoper.
Unter der Leitung von Helene Weigel, Ruth Berghaus und Manfred Wekwerth wurden zu jeder Inszenierung Figurinen für die Schauspieler angefertigt, gezeichnete Vorlagen mit der entsprechenden Bekleidung, die in dem Stück getragen wird. Nur wenn sich nach Proben andere Anforderungen an ein Kostüm ergaben oder bei sehr stichhaltigen Argumenten wurden diese Vorlagen verändert.
Zu der Zeit trugen wir bereits während der Proben Kostüme, die später den handgefertigten der Aufführung entsprachen. So konnten wir uns an den Sitz und das Material gewöhnen. In diese Probenkostüme war jeweils ein kleines, weißes Wäscheband eingenäht, auf dem mit schwarzer Tusche der Name dessen stand, der es trug.
Heute entwickelt sich die Gestaltung der Kostüme während der Proben, vor allem aber richtet sie sich nach dem vorhandenen Geld.
Als das Fünfer-Gremium die Macht übernahm, wurde dieser wundervolle Fundus regelrecht geplündert. Kleider, Blusen, Sakkos, Anzüge, Oberhemden, Wäsche- und Uniformteile, Zylinder, Hüte, Schuhe verschwanden, es wurde ausgesucht und zurückgebracht oder nicht, in die Außenstelle verlagert oder nicht, es herrschte ein großes Durcheinander, niemand kontrollierte mehr den Raum unterm Dach, der Verwalter war ja entlassen worden.
Dem Fundus erging es übrigens wie dem Von-Appen-Zimmer, das einst jedem Theatermitglied offenstand. Darin wurden seine wunderbaren Modelle für Bühnen- und Szenenbilder und seine Figurinen aufbewahrt.
Brecht hatte 1954 Karl von Appen ans BE geholt, er war viele Jahre lang Chefbühnenbildner, arbeitete auch für die Münchner Kammerspiele und The National Theatre London. Selbst dieses Zimmer wurde geplündert, die zauberhaften Miniaturen landeten in Puppenstuben, gingen in Entwürfe anderer ein, wurden entsorgt. Da verstand ich das Wort »abwickeln«: Was keinen materiellen Gebrauchswert hat, ist überflüssig.
Es sind glücklicherweise immer noch viele der alten Kostümteile erhalten und durchaus zu gebrauchen. Das löst aber bei einigen neuen Kolleginnen und Kollegen Verwunderung aus: »Das ist eine Hose von einem Hermann Hiesgen, die ist ja schon getragen, so was ziehe ich nicht
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