Im Leben wird dir nichts geschenkt.
stimmte, ich fühlte mich in den Kleidern wohl, und der Fotograf war unglaublich – ich glaubte sogar allmählich, dass mein Gesicht gar nicht so übel aussah.
Zum ersten Mal im Leben spürte ich diesen Funken in mir. Du siehst in Ordnung aus. »Kann das sein?«, fragte ich mich. Ich betrachtete meine Fotos und verglich sie mit den anderen Models. Und ich dachte – du gehörst dazu. Endlich war ich keine Außenseiterin mehr. Ich hatte einen Tag mit anderen Mädchen verbracht, die genauso groß und dünn waren wie ich. Wir waren eine Giraffenherde, und es war niemand da, der sich über uns lustig machte. Keine von uns brauchte vor Unsicherheit die Schultern hängen zu lassen. Wir standen aufrecht da und blickten ohne Scheu in die Kamera. Konnte das Leben so einfach sein? Ich konnte mich nicht entsinnen, irgendwann einmal nicht die Spottfigur gewesen zu sein. Jetzt wurde ich dafür bezahlt, ich selbst zu sein.
KAPITEL FÜNF
EIN BILDUNGSEXPERIMENT
G ehen wir ein Stück zurück, wie es mir in der achten Klasse erging. Es war 1977, und ich sollte endlich die Schule wechseln. Die letzten Jahre vor meinem Abschluss verbrachte ich in einer staatlichen Schule, die mit einer neuen Lehrmethode experimentierte. Es gab davon nur eine einzige in ganz Dänemark, und sie lag nicht weit von uns. Ich gehörte zu den wenigen Schülern im ganzen Land, die eingeladen wurden, daran teilzunehmen.
Alles wurde dort anders gemacht – das Gebäude war neu, die Lehrer waren unkonventionell, und dasselbe galt für die Schüler. Die 48 Schüler, die von 50 Schulen ausgesucht wurden, hatten alle da, wo sie herkamen, Probleme gehabt. Dieses neue Konzept sollte Lernen zu einer positiveren Erfahrung machen und – überhaupt – das dänische Schulsystem verändern. An den meisten dänischen Schulen hatten es sensible Kinder schwer – man hatte sich einzufügen und anzupassen. Das entspricht der dänischen Mentalität: Glaub ja nicht, du wärst was Besseres. Chancengleichheit war das allgemeine Credo, auch wenn ich den Verdacht hege, dass viele Dänen einfach nur neidisch sind, wenn du Erfolg hast.
Die Siebziger allerdings waren ein experimentierfreudiges Jahrzehnt, und nun war die Bildung an der Reihe. Ich hatte mich so viele Jahre darum bemüht, genauso wie alle anderen Kinder zu sein, doch ich hatte immer einen besonderen ästhetischen Sinn gehabt. Es ist ein cooles Wort und leitet sich vom Griechischen aesthesis ab. Es geht dabei um die Wahrnehmung der Bewegung, des Gefühls und der Seele. All diese Dinge kamen an einer normalen Schule zu kurz. Die meisten Dänen wollen nur addieren und subtrahieren – vergiss den Atem, vergiss Gefühle, rühr dich nicht! Versuch auch nicht zu analysieren, kreativ zu sein oder mehr zu verstehen, als fürs bloße Überleben nötig ist. Geh keine Risiken ein. Das alles war genau das Gegenteil von meinem Lebensgefühl. Es war alles so öde und vorhersehbar, und dann plötzlich diese neue Schule, die meiner Veranlagung so viel mehr entgegenkam.
Das neue Konzept ermutigte die Schüler, ihre eigenen Wege zu finden, ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten. Es war wie ein frischer Wind, der mir um die Nase wehte, wenn auch gewöhnungsbedürftig und ein wenig beängstigend. Die Hierarchie war verschwunden, und es stand uns frei, selbstständig zu denken. Die Angst, dieses drückende Gefühl, bestimmten nicht länger meinen Alltag. Meine neue Schule brachte vier Dinge mit sich, die ich bis dahin nie kennengelernt hatte – Musik, Titten, einen Freund und eine neue Freundin. Endlich fing ich an zu leben.
Mein Dad hatte mir immer gesagt, ich sollte mit meiner Musik nicht so laut sein, besonders sonntagmorgens. Ich sang ständig – womit ich alle in den Wahnsinn trieb, doch ich konnte es einfach nicht lassen. Ich sang in meinem Zimmer, in der Toilette, auf dem Fahrrad und besonders in der Küche – da war die Akustik so gut.
Können Sie sich vorstellen, wie nervig ich gewesen sein muss, ein Kind, das ständig singt? Da es die Siebzigerjahre waren, machte ich die Os monds nach, dann eine dänische Künstlerin namens Sanne Salomonsen, dazu progressivere Musiker wie Alrune Rod oder Charlatan. Mein Dad bevorzugte Klassik, doch in seinem Plattenstapel entdeckte ich ein paar heimliche Sünden wie die großen Songs von Elvis, Sinatra und Sammy Davis Jr., große Hits wie »My Way« und »You Aint Nothing But a Hound Dog«, die mich bis heute tief bewegen. Als Teenager hörte ich sie bei voller Lautstärke. Diese Songs
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