Im Licht der roten Erde
»Man spürt, dass man vom Blitz erschlagen wird, sobald man Hand an eine dieser Malereien legt.«
»Die Energie, die davon ausgeht, ist tatsächlich greifbar. Ich habe so etwas noch nie im Leben gesehen.« Alistair setzte sich auf einen kleinen Felsbrocken, glatt und wie geschliffen von Tausenden von Jahren, in denen er als Sitz gedient hatte. Die anderen suchten sich ähnliche Steine oder hockten sich auf den Boden der Höhle.
Ardjani stand neben einigen der größten Bilder. Die Inszenierung, dachte Alistair, war überwältigend, großes Theater, die Astronauten oder Außerirdischen ähnelnden, unglaublich alten Figuren boten einen Hintergrund, der Ardjani das erhabene Charisma eines die Bühne beherrschenden Mimen verlieh.
Beth saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Sims in seiner Nähe, fast als würde sie ebenfalls eine Rolle spielen, allerdings eine sehr viel unbedeutendere. Alan mit seinem künstlerisch geschulten Auge für Komposition und Inhalt genoss den Moment.
Veronica setzte sich, das Aufnahmegerät im Schoß, und richtete das Mikrofon auf Ardjani. Barwon zögerte, unsicher, zu welcher der beiden Gruppen er gehörte – Aborigines oder Europäer. Schließlich stahl er sich davon und setzte sich auf einen Platz in einer Spalte zwischen zwei Felsen.
Mit seinem feinen Gespür für den richtigen Zeitpunkt beendete Ardjani das lange Schweigen. »Die Ahnengeister wohnen hier.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf die Felsbilder und begann die Geschichte der Schöpfung durch die
wandjina
zu erzählen. »Die Ahnenwesen nahmen menschliche Gestalt an, wandelten durchs Land und erschufen die Welt.«
Er deutete auf den an einen Heiligenschein erinnernden Kranz um den Kopf einer der gemalten Gestalten und erklärte: »Die Blitze und Wolken … das, was diese Figur hier wie ein Mantel umhüllt, ist Regen. Der
wandjina
ist ein Regengott. Er hat keinen Mund, der ist im Nebel verborgen, und er weiß vieles, das unser Wissen und Verständnis übersteigt. Er spricht zu unseren Seelen. Der Nebel auf dem Bild trennt uns von unseren Ahnenwesen, sie sind uns in ihrem Wissen weit überlegen.«
Ardjani fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, holte Luft und erzählte mit kräftigerer Stimme, wie die
wandjina
die Landschaft geformt, die Flüsse, Berge und Bäume geschaffen hatten und wie sie, als ihre Hauptaufgabe erledigt war, sich selbst mit der Felswand verschmolzen hatten, um für immer dort zu bleiben und über die Menschen ihres Landes zu wachen. »Dieser Ort ist wie der Garten Eden, wo alles seinen Anfang nahm: das Land, die Menschen, die Tiere, die Pflanzen, alles im Barradja-Land. Als die
wandjina
kamen, wurde alles
yorro yorro
– neu, lebendig. Hier liegt der Samen unserer Kultur, alles hier ist
wunggud,
voller Energie und Lebenskraft. Hier entspringt das
wurnan law,
ein System, das alle Barradja miteinander verbindet, egal, wohin sie gehen. Wir bewahren dieses Gesetz in den Liedern, die man an uns weitergegeben hat, und wir lernen daraus und machen sie uns zunutze. Das ist unsere Tradition.«
Wie ein Orakel breitete Ardjani die Arme aus und deutete auf eine der Figuren, die an einigen Stellen bereits verblasste. »Er hier wirkt traurig. Nach ihm hat lange niemand mehr gesehen.«
»Wir müssen ihn auffrischen«, sagte Rusty.
»Gut. Wir sind die Hüter. Wir müssen an diesen Ort zurückkehren und Zeremonien abhalten, die Farbe erneuern, um den
wandjina
zu kräftigen, damit sie sich alle zusammen an die Arbeit machen und sich um unser Land kümmern können. Das ist die Aufgabe einer jeden Generation. Wir brauchen die
wandjina,
sie machen den Regen und lassen alles wachsen und gedeihen.«
Er ging an den Malereien entlang und deutete auf ein weiteres Bild. »Das hier zeigt die Schildkröte, sie singt aus dem Herzen, sie ist die Liebe. Und das hier ist
sugarbag,
die Süße des Lebens. Und da sind auch Donner, Regen und die Blitzbrüder mit ihren zwei Hämmern, die sie gegeneinanderschlagen, so dass es blitzt und donnert.« Wieder breitete er die Arme aus, als wollte er alle Bilder umarmen. »Hier wohnen unsere Geschichten.«
Ardjani wandte sich nach rechts einer Gruppe von kleineren Malereien zu, die sich in eine Nische in der Felswand schmiegten. »Jetzt erzähle ich euch die Geschichte von diesem Bild hier … von Dumbi.«
Die Malerei, kindlich in seiner Schlichtheit, zeigte eine kleine weiße Eule. Anstelle von Federn hatte sie Tupfen.
Ardjani drehte sich zur Wand und sprach leise ein
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