Im Licht der roten Erde
weinen. Nach und nach verwandelte sich ihr Schmerz in Zorn, dann in Bitterkeit. Sie holte tief Luft und nahm das weiße Telefon zur Hand. »Polizei? Könnten Sie bitte jemanden vorbeischicken? Ich bin soeben von einem Aborigine überfallen worden …«
Kurze Zeit später wurde er auf einer Bank vor einem leeren Taxistand von zwei uniformierten Beamten aufgegriffen, geschwächt vom Blutverlust und unter Schock stehend.
Susan bürstete ihr schulterlanges braunes Haar zu einem glänzenden Bob, der ihr offenes Gesicht mit den hohen Wangenknochen umrahmte. Sie legte auffälligen Rotgoldschmuck an, schlang sich einen cremefarbenen Kaschmirpullover über die Bluse, nahm eine Flasche Hunter-Valley-Scarborough-Pinot-Noir und machte sich auf den Weg.
Musik und Gesprächsfetzen wehten aus der offenen Tür des für den Sydneyer Vorort Paddington typischen Reihenhauses aus der Zeit der Jahrhundertwende. Susan bezahlte das Taxi und trat auf die Straße. Schemenhafte Gestalten glitten hinter duftigen Gardinen hin und her. Alles wirkte einladend, und wie jedes Mal bewunderte sie die aufwendigen schmiedeeisernen Außenverzierungen und Verandageländer, die an Spitzenarbeiten erinnerten. Genau wie in vielen anderen Häusern in der Straße war der kleine Vorgarten ein Meer aus Blumen, beschattet von einem geschickt angestrahlten großen Baum.
Als sie den Gartenpfad hinaufging, hörte sie das schmiedeeiserne Tor aufschwingen und eilige Schritte hinter sich.
»Warten Sie, ich bin gleich bei Ihnen!«, rief eine muntere Männerstimme, doch bevor sie sich umdrehen und nachsehen konnte, wem die Stimme gehörte, wurde sie bereits von Veronica in die Arme geschlossen. »So, dann seid ihr zwei also zusammen eingetroffen. Sehr gut. Andrew, das ist Susan Massey.«
Im Flur mit seinen Bleiglasfenstern oberhalb des Türbogens stellte sie fest, dass es sich um einen kräftigen, fröhlich wirkenden Mann in den frühen Dreißigern handelte, ohne Zweifel jemand, der viel Zeit im Freien verbrachte: Er verströmte die Aura von heißer Sonne und nach Harz duftenden Brisen – ein Mann, dem man zutraute, mit wilden Stieren und langen Dürreperioden zurechtzukommen. Er schüttelte ihr die Hand. »Andrew Frazer.«
Susan und Andrew folgten Veronica, und als sie sich der Küche näherten, bedeutete sie ihnen einzutreten. »Liebling, zwei Neuankömmlinge.«
Boris, Veronicas jugoslawischer Ehemann, ein knuddeliger Bär von Mann mit Vollbart, legte den Pfannenwender aus der Hand. »Susan, schön, dich zu sehen.« Er küsste sie auf die Wange und schüttelte Andrews Hand, der seine mitgebrachte Flasche neben die von Susan auf die Arbeitsplatte gestellt hatte. »Bravo, ein guter Pinot und ein klassischer Weißer – hm, Margaret River, dann bist du deinem Staat treu geblieben, Andrew? Genau wie Susan. Wie wär’s mit einem Tröpfchen Cloudy Bay aus Neuseeland, damit wir auf neutralem Terrain bleiben?« Er schenkte einen erfrischenden trockenen jungen Weißwein ein, und sie stießen miteinander an.
Nach ein paar Minuten Smalltalk berührte Veronica Andrews Arm. »Kann ich dich für einen Moment entführen, dort sind zwei Herren, die ich dir gern vorstellen möchte. Komm doch zu uns, Susan, wenn du fertig bist.«
»Hast du den ganzen Nachmittag den Küchensklaven gespielt, Boris? Es riecht wundervoll«, bemerkte Susan.
Boris kostete die Soße. »Aber nein. Diese Woche bin ich Veronicas Gartensklave: Grab dieses Loch, versetz den Stein, pflanz das ein.«
»Ah, mal wieder der Garten«, sagte Susan. Sie bewunderte die Beziehung der beiden – sie schienen ein ideales Paar abzugeben. Veronica war vierzig, eine ehemalige Print-Journalistin mit einem kurzen, unerfreulichen Abstecher zum Fernsehen. Sie hasste die Oberflächlichkeit und die ihr unerträgliche Haltung des männlichen mittleren Managements und kündigte den Job, bevor man dort anfing, ihre Falten zu zählen.
Zu Hause hatte sie sich ein Jahr lang dem Gärtnern und ihrem Boris gewidmet in der Hoffnung, dass sie doch noch ein Kind bekommen könnten. Gleichzeitig hatte sie eine Kolumne für den
Australian
geschrieben, die sich so großer Beliebtheit erfreute, dass man ihr eine Stelle beim Radiosender ABC angeboten hatte. Jetzt arbeitete sie als Rundfunkjournalistin, und ihr Morgenprogramm hatte sich dank ihrer Hartnäckigkeit und ihres Talents von »Frauenkram« zu wohlüberlegten, provokanten Themen von allgemeinem Interesse gemausert.
Innerhalb von fünf Jahren war Veronica ein Star
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