Im Licht der roten Erde
Mittagessenszeit an der Avenue-Station, wo wir auf Rosalies Flieger warten.«
Vorne im OKA plauderten die junge Rechtsanwältin und der Kronanwalt miteinander. Sämtliche altersbedingte Vorbehalte zwischen den beiden Juristen schwanden wie der Morgennebel, als sie den Zauber ihrer ersten Stunden in der Kimberley miteinander teilten. Susan erzählte Alistair Details des Barwon-Falls. Veronica hatte sich nach hinten gesetzt, um mit dem Richter zu plaudern, der in Erinnerungen schwelgte. Sie kicherte, als er seine Anekdoten zum Besten gab, und öffnete spontan ihre Tasche.
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich das aufnehme?«, fragte sie.
Der Richter zuckte die Achseln. »Wozu, zum Teufel? Wer sollte an dem Geschwafel eines alten Kauzes wie mir Interesse haben?«
»Bescheidenheit passt nicht zu Ihnen, Mick. Sie sind ein berühmter Richter, Sie erzählen eine großartige Geschichte, und Sie hatten ein faszinierendes Leben. ›Kauzig‹ ist nicht gerade das Wort, mit dem ich Sie oder das, was Sie getan haben, beschreiben würde.«
»Ich habe zu meiner Zeit ein paar ziemlich unüberlegte Dummheiten angestellt. Und habe auf diesem Wege auch einige Treffer gelandet, schätze ich«, räumte er ein.
Veronica fummelte an ihrem Tonbandgerät herum, stöpselte dann das kleine Mikrofon ein und hielt es zwischen sie beide. »Okay, wie war Westaustralien damals, als Sie als junger Mann zum ersten Mal hierhergekommen sind?«
Mick legte los, der geborene Erzähler, zufrieden mit seinem Publikum, erfreut über die Aufmerksamkeit.
Beth setzte sich auf ihrem Sitz zurecht und lächelte in sich hinein.
Alistair MacKenzie blickte durch die große Windschutzscheibe. Susan betrachtete sein Profil. Trotz seines fülligen Kinns und der Falten neben seinem Mund war er immer noch ein gutaussehender Mann. Sie hatte ihn vor Gericht erlebt. Wenn er sein Plädoyer vor den Geschworenen hielt, zog er eine ganze Schar von jungen Anhängern in seinen Bann, die begierig darauf warteten, ihren Meister in Aktion zu sehen. Sie wusste, dass er arrogant, einschüchternd, kaltblütig und schulmeisterlich sein konnte, was selbst einflussreiche Männer manchmal dazu brachte, unzusammenhängendes Zeug zu stammeln. Trotzdem sah sie nun eine Traurigkeit, die seinen Blick verdunkelte.
»Nun, mein gebildeter Freund, erzählen Sie mir, warum Sie beschlossen haben, diese Reise zu machen.« Susan lächelte ihn an.
Er schwieg einen Moment, dann fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen, bevor er leise sagte: »Man kommt in seinem Leben an einen Punkt – wenngleich ich so enthusiastisch war wie Sie, meine Liebe –, an dem man sich fragt, warum.«
Sie wartete, dann wiederholte sie fragend: »Warum?«
»Warum tue ich das, was ich tue? Bin ich glücklich dabei?« Er wartete auf ihr Stichwort.
»Und die Antwort …?«
»Ist nicht gar so erfreulich. Als Kind dachte ich, ich würde gern Wissenschaftler werden. Durch ein Mikroskop Käfer und Moleküle betrachten, Mittel gegen Krankheiten suchen und herausfinden, woraus wir alle gemacht sind. Meine Eltern sahen keine große Zukunft für ein namenloses Rädchen im weißen Laborkittel. Ich war intelligent, und ich war dafür bestimmt, ihre Träume zu erfüllen. Also tat ich, was von mir erwartet wurde, und führte die Familientradition fort: Ich bekam ein Stipendium fürs Jurastudium. Und da bin ich.« Er lächelte sie verzagt an.
»Aber Sie sind doch gewiss stolz auf das, was Sie erreicht haben?«, beharrte Susan, verwundert über ihre Unverfrorenheit. Dieser Mann war in ihrer Welt ein Gott.
»Meine zunehmende Unzufriedenheit mit meinem Leben leitete sich gerade aus dem Nachdenken über das Erreichte ab und führte zu der Schlussfolgerung: Ich habe viel Geld für ohnehin vermögende Unternehmen, Privatleute und mich selbst verdient. Wenn ich morgens in den Spiegel schaute, hatte ich den Eindruck, das sei nicht genug. Ich begann mir Sorgen zu machen, keinen Einlass an der Himmelspforte zu finden, ehe ich nicht etwas zurückgegeben hätte. Ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte, doch als Beth vorschlug, ich solle mich mit diesen
law men
unter den Sternen der Kimberley treffen, hoffte ich, ich könnte etwas von ihnen lernen. Ich betrachte das nicht als ›weißer Hochmut begegnet schwarzer Spiritualität‹, aber ich halte mich für demütig genug, um zu hoffen, dass ich ein Gefühl der Klarheit finde – oder wie immer man das nennen mag –, das mir in meinen alten Tagen Kraft gibt.
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