Im Licht der Sonne: Roman (German Edition)
Schüchterne, die kaum die Zähne auseinander bekam.« Lindamae schnaubte verächtlich, ließ den Rauch wie ein Drache aus den Nasenlöchern entweichen. »Eine Einzelgängerin. Hat ihre Arbeit gemacht, das kann man nicht anders sagen, und war nie anders als höflich. Eine Lady, hab ich damals zu Tidas gesagt, diese Nell ist eine Lady. Man merkte ihr irgendwie an, dass sie was Besseres war. Dünn wie ’ne Bohnenstange, die Haare ganz kurz abgeschnippelt und straßenköterbraun gefärbt … aber das spielte keine Rolle. Sie hatte Klasse und so was lässt sich nun mal nicht verbergen.«
Lindamae nahm erneut einen tiefen Zug, dann fuchtelte sie mit ihrer Zigarette herum. »Ich war nicht im Geringsten überrascht, als ich diesen Bericht in den Nachrichten sah. Hab sie auch auf Anhieb wiedererkannt, obwohl sie auf dem Bild, das sie im Fernsehen zeigten, blond war und topmodisch gestylt. Ich hab damals zu Suzanne gesagt – Suzanne und ich hatten gerade die Mittagsschicht angetreten – also, ich hab zu Suzanne gesagt: Sieh doch bloß mal, wen sie da im Fernsehen zeigen. Es war der Apparat da drüben, hinter der Theke«, fügte sie erklärend hinzu. »Ich hab gesagt, das ist die kleine Nell, die letztes Jahr ein paar Wochen hier gearbeitet hat. Suzanne hätt’s fast umgehauen, als sie Nell auf
dem Bildschirm sah, aber ich, ich war überhaupt nicht überrascht.«
»Wie lange hat sie hier gearbeitet?«
»So ziemlich genau drei Wochen. Dann, eines Tages, ist sie einfach nicht mehr zu ihrer Schicht aufgekreuzt. Ich hab nie wieder was von ihr gesehen oder gehört, bis dieser Bericht in den Fernsehnachrichten gesendet wurde. Tidas war stocksauer auf sie, das können Sie mir glauben. Das Mädchen konnte nämlich fantastisch kochen.«
»Ist jemals irgendjemand hier gewesen, der nach ihr gesucht hat? Der ein auffälliges Interesse an ihr bekundet hat?«
»Nee. Außerdem hat sie sowieso kaum jemals den Kopf zur Küchentür rausgesteckt.«
»Glauben Sie, Tidas würde mich ihre Personalakte einsehen lassen?«
Lindamae zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette und betrachtete Harding durch den blauen Rauchschleier. »Sie können ihn ja mal fragen. Fragen kostest schließlich nichts, nicht?«
Es kostete ihn einen weiteren Zwanziger, um einen Blick in die Unterlagen zu werfen, aber er erfuhr auf diese Weise das genaue Datum von Nells Weggang. Ausgerüstet mit dieser Information und einer reellen Einschätzung ihrer damaligen Finanzlage, machte sich Harding auf den Weg zum Busbahnhof, um dort weitere Erkundigungen einzuziehen.
Er verfolgte Nells Weg bis nach El Paso, wo er ihre Spur beinahe wieder verlor, bis er den Mann aufspürte, der ihr ein Auto verkauft hatte.
Er folgte ihrer Spur Tag für Tag und las wieder und wieder jeden Zeitungsartikel, jedes Interview, jede Aussage und jeden Kommentar, die seit Remingtons Festnahme geschrieben worden waren.
Nell hatte in Imbiss-Stuben, Hotelrestaurants und Coffee
Shops gearbeitet und war während der ersten sechs Monate ihrer Flucht nur selten länger als drei Wochen an einem Ort geblieben. Ihre Route wirkte auf den ersten Blick ziemlich willkürlich gewählt und schien nur wenig Sinn und Zweck zu haben. Und das, dachte Harding, war genau der Punkt. Sie war nach Süden gefahren, dann nach Osten, dann hatten sich ihre Spuren teilweise überschnitten, und sie war wieder nach Norden gefahren. Trotz dieses wirr anmutenden Musters war sie letztendlich immer wieder nach Osten gestrebt.
Harding schenkte Lindamaes Meinung von ihrem eigenen Scharfblick und ihrer Menschenkenntnis zwar nicht sonderlich viel Glauben, aber er stellte bei all seinen Interviews mit Arbeitgebern und Kollegen doch jedes Mal eine gewisse Übereinstimmung fest.
Nell Channing war eine Dame.
Was sie sonst noch alles war, darüber würde er sich selbst ein Urteil bilden müssen. Er konnte es kaum noch erwarten, sie persönlich kennen zu lernen. Aber bevor er das tat, wollte er noch mehr in Erfahrung bringen. Er wollte Evan Remingtons Story haben.
Ohne zu ahnen, dass ihr Leben zurzeit genauestens unter die Lupe genommen wurde, nutzte Nell ihren freien Tag und den Wetterumschwung zu einem ausgedehnten Spaziergang. Es hatte Tauwetter eingesetzt, und in der Luft lag ein Hauch von Frühling. Es war so warm, dass man nicht mehr als eine leichte Jacke brauchte, und die Sonne schien so hell, dass ihr Licht wie Laserstrahlen auf blauem Wasser funkelte.
Nell nahm Lucy mit zum Strand hinunter und spielte mit dem
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