Im Licht von Apfelbäumen | Roman
seinen Blick auf sie eingestellt hatte. Doch dann ging er weiter – entweder hatte er sie nicht erkannt, oder es war ihm egal. Aber er war es, dachte Della, als sie sich wieder auf ihr Bett setzte. Er war es!
Kommen Sie, sagte der teiggesichtige Wärter.
Sie durfte einmal am Tag auf den Hof, vor den Männern. Als einzige Frau hatte sie allein Hofgang. Sie lief gemächlich im Kreis herum, wobei sie fast den ganzen Radius ausnutzte und nirgends lange verweilte, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ab und zu blickte sie sich nach dem Wärter um. Wenn er nicht hinsah oder döste – der Teiggesichtige hielt gern mal ein Nickerchen –, bückte sie sich und hob Dinge vom Boden auf, die ihr später nützlich sein konnten. Wenn er zu ihr hinschaute, tat sie so, als schnürte sie sich die Schuhe. Ein kleiner Stock, den sie sich in den Stiefelschaft schob. Ebenso Steine. Eine Glasflasche steckte sie sich vorne in die Hose.
Die Wärter waren lax, was das Abtasten betraf. Sie sammelte eine Menge Gegenstände in ihrer Zelle an, die sie in einem Ritz in ihrer Matratze versteckte.
Die Fahrt war mühelos, die Straßenlage gut. Obwohl er merkte, dass selbst eine leichte Reise jetzt nicht mehr so leicht für ihn war wie früher. Seine Gelenke begannen zu schmerzen, der Schmerz breitete sich aus. Am ersten Tag fuhr er zu lange, ohne zwischendurch auszuruhen, und als er am Abend sein Feuer vorbereitete, war er ganz steif. Nach dem Essen legte er sich zum Schlafen hinten in den Wagen. Der Geruch der Decken – Draußendecken hatte seine Mutter sie genannt, weil sie sie für Übernachtungen unterwegs verwendeten – rief ihm frühere Zeiten ins Gedächtnis, Zeiten, die ihm nicht mehr deutlich in Erinnerung waren.
Am Morgen ging er, müde und benommen, zum Fluss hinunter und wusch sich das Gesicht. Ihm war ein bisschen schwindelig. Der Tag war sehr hell.
Während die Räder sich knarrend in den Wagenspuren drehten, richtete er seine Gedanken auf das, was vor ihm lag. Della, in einer Zelle eingesperrt. Und wie mochte sie wohl jetzt sein? Als er sie zuletzt gesehen hatte, war sie ein Mädchen gewesen, aber inzwischen war sie eine erwachsene Frau. Sie hatte sich gestellt; vielleicht war also eine Art Bekehrung vor sich gegangen. Keine religiöse Bekehrung, sondern ein Sinneswandel: Sie hatte einen Fehler gemacht, ein Verbrechen begangen, doch nun wollte sie die Verantwortung dafür übernehmen. Immerhin. Und vielleicht, dachte er, legte sie sich etwas zur Last – ein Ereignis, eine Tat –, woran sie gar keine Schuld trug.
Er würde feststellen, was geschehen war, und ihr helfen. So oder so – ob sie schuldig war oder nicht – würde er ihr helfen.
Und dann ließ der teiggesichtige Wärter sie eines Tages auf den Hof, als die Männer gerade erst wieder hereinkamen. Es fanden irgendwelche Baumaßnahmen am Gebäude statt, deshalb hatte sie nicht zur gewohnten Zeit hinausgehen können. Anstatt zunächst die Männer einzusperren und Della danach auf den Hof zu lassen, holte der Teiggesichtige sie schon vorher aus ihrer Zelle und ließ sie warten, während die Männer an ihr vorbeidefilierten.
Am nächsten Tag versteckte sie eine aus einem angespitzten Stock gefertigte Waffe in ihrem Ärmel. Doch als es so weit war und Michaelson wieder an ihr vorbeiging, kaum mehr als eine Armeslänge entfernt, tat sie nichts; sie beobachtete ihn nur. Mit rasendem Herzen. Sie wollte, dass er sie erkannte, doch das tat er nicht.
Und dann war es ihr auf einmal gleichgültig, ob er sie erkannte oder nicht. Am nächsten Tag, als sie erneut warten musste, bis die Männer an ihr vorbei waren, stach sie mit ihrem angespitzten Stock zu.
Doch dabei geschah etwas Merkwürdiges. Anstatt auf Michaelsons Hals oder Gesicht zu zielen, wie sie es hätte tun sollen und auch beabsichtigt hatte, ließ sie im letzten Moment die Hand sinken und streifte ihn nur an der Hüfte. Die Waffe war kurz und taugte nur für oberflächliche Verletzungen, es sei denn, man zielte auf den Hals, wo man sie ins Fleisch bohren konnte, um die Vene zu erwischen. Doch in der letzten Sekunde war es, als hätte sie Skrupel bekommen oder, schlimmer noch, den Mut verloren. Und er fasste sich an die Taille, verzog das Gesicht und sah sie noch nicht einmal an. Scheuchte sie nur weg wie eine Fliege und stöhnte. Dann stürzten sich auch schon die anderen Männer auf sie und versuchten, ihr den Stock zu entwinden. Einer schlug sie aufs Auge. Ihre eigene Waffe schrammte ihr
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