Im Meer schwimmen Krokodile
öffnete ich die Geldkassette, nahm die Münzen heraus und zählte sie – eins, zwei, drei –, obwohl ich sie schon milliardenmal gezählt hatte. Scheine lassen sich leichter zählen, aber die Münzen konnte ich zu gewaltigen Türmen aufstapeln.
Als das Geld immer mehr wurde – schließlich erhielt ich jeden Monat meinen Lohn, und es gab nicht viele Möglichkeiten, ihn auszugeben – und meine Spargroschen nicht mehr in die Kassette passten, dachte ich mir ein anderes System aus: Ich nahm die Scheine, steckte sie in eine Plastiktüte, die ich sorgfältig mit einem Gummiband verschloss, und vergrub sie an einem geheimen Ort auf der Baustelle. Ich wickelte die Tüte straff um das Geld, damit es nicht nass oder von Mäusen angenagt wurde.
Ich gehe fort, sagte Sufi eines Abends zu mir. Isfahan ist zu gefährlich.
Und wohin?
Nach Qom.
Wieso nach Qom? Was ist in Qom anders als in Isfahan?
In Qom leben viele Afghanen. Sie arbeiten in den Steinfabriken und halten fest zusammen.
Er wollte mich im Stich lassen. Ich traute meinen Ohren kaum. Du kannst unmöglich fortgehen!, sagte ich.
Komm doch mit.
Nein, ich fühle mich wohl auf der Baustelle.
Dann werde ich eben alleine gehen.
Wer hat dir das überhaupt erzählt, das mit den Afghanen in Qom? Was, wenn es gar nicht stimmt?
Ein paar Jungs, die hier für eine andere Firma arbeiten. Sie haben mir auch eine Telefonnummer gegeben. Hier, schau!
Er zeigte mir einen Zettel. Darauf stand mit grünem Filzstift eine Nummer. Ich bat Onkel Hamid um einen Kugelschreiber und trug sie in mein Heft ein, das er mir als Geschenk aus dem Laden mitgebracht hatte. Ein Heft mit einem schwarzen Umschlag, in dem ich alles notierte, was ich anschließend getrost vergessen konnte. Schließlich hatte ich es mir ja aufgeschrieben. Onkel Hamid war es auch, der mir beibrachte, besser zu lesen und zu schreiben.
Als ich am nächsten Morgen wach wurde, war Sufi verschwunden.
Danach glaubte ich, dass Schlafen ein Fehler ist. Dass man nachts besser wach bleibt, damit die Menschen, die einem nahestehen, nicht plötzlich verschwinden.
Wie sehr dir jemand fehlt, merkst du an Kleinigkeiten.
Sufis Abwesenheit machte mir vor allem nachts zu schaffen, wenn ich mich im Schlaf umdrehte und ihn nicht mehr neben mir fand. Und er fehlte mir auch tagsüber in den Arbeitspausen, in denen wir jetzt nicht mehr gemeinsam mit Steinen auf Gläser, Eimer und so was zielten.
Eines Abends kehrte ich besonders traurig von der Arbeit zurück und setzte mich vor einen kleinen SchwarzWeiß-Fernseher. Es war einer, bei denen man die Antenne von Hand einstellen musste, womit man mehr Zeit verbrachte als mit dem Fernsehen selbst. Auf einem Kanal lief ein Film, in dem zwei große Türme einstürzten. Ich schaltete um, aber da lief derselbe Film. Ich schaltete noch einmal um, mit demselben Ergebnis. Da sagte Onkel Hamid, dass das kein Film sei. Dass in Amerika, in New York, zwei Flugzeuge ins World Trade Center geflogen seien. Erst hieß es, es wären Afghanen gewesen. Später, dass es Osama Bin Laden war, den die Afghanen schützten. Al-Qaida, hieß es.
Ich hörte ein wenig zu, aß dann meine Suppe und legte mich schlafen. Der Vorfall mag schlimm gewesen sein – heute weiß ich, dass er schlimm war –, aber damals gab es für mich nichts Schlimmeres, als von Sufi getrennt zu sein. Wenn du keine Familie mehr hast, bedeuten dir Freunde alles.
Die Zeit verging. Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate. Mein Leben verstrich. Ich hätte mir gern eine Armbanduhr gekauft, um ein Gefühl dafür zu entwickeln. Eine Uhr könnte mir die Zeit, das Datum, das Wachstum von Nägeln und Haaren anzeigen und mir sagen, um wie viel ich alterte.
Dann kam der Tag, ein besonderer Tag, an dem wir unseren Gebäudeabschnitt fertigstellten. Es gab nichts mehr zu tun, alles war montiert worden, einschließlich der Türklinken. Jetzt mussten die Wohnungen nur noch ihren Eigentümern übergeben werden. Also sind wir umgezogen und haben woanders gearbeitet. Die beiden Inhaber der Baufirma haben sich getrennt, und ich bin bei dem geblieben, der mir sympathischer war.
Wir zogen in ein Dorf am Stadtrand von Isfahan, das Baharestan heißt. Ich beherrschte meine Arbeit immer besser, also das Hochziehen von Häusern und so. Man übertrug mir öfter Aufgaben, die Spezialkenntnisse und Verantwortungsgefühl erforderten. Zumindest sagte man mir das, vielleicht auch nur, um mich auf den Arm zu nehmen: Zum Beispiel sollte ich Baumaterial an einem
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