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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Seil in die oberen Stockwerke ziehen.
    Ich stellte mich tatsächlich geschickter an, alle vertrauten mir. Trotzdem war ich immer noch genauso klein wie vorher. Und so kam es, dass das Baumaterial, noch während ich am Seil zog, plötzlich schwerer wurde als ich. Die Last begann zu sinken, und ich wurde in die Höhe gehoben. Alle lachten, und bevor jemand kam, um mir zu helfen, ließen sie mich eine Weile wie wild schreien und zappeln. Dabei durfte ich die Last nicht loslassen, denn wenn sie zu Bruch gegangen wäre, wäre das natürlich meine Schuld gewesen.
    Aber das Beste, gewissermaßen meine eigene kleine Revolution, war, dass ich begann, die Baustelle manchmal zu verlassen. Zum einen, weil Baharestan nur ein kleines Dorf und weitaus weniger gefährlich war als Isfahan. Zum anderen, weil ich inzwischen gut Farsi* gelernt hatte. Viele Leute im Dorf waren sehr nett zu mir, vor allem Frauen.
    * Kleine Anmerkung zur Sprache. Wer sich nicht dafür interessiert, kann ruhig weiterlesen: In den folgenden Zeilen kommt niemand ums Leben, und man verpasst auch nichts, was für den weiteren Verlauf der Geschichte wichtig wäre. Mein Sprachproblem bestand darin, dass ich nicht gut Iranisch sprach. Die beiden Sprachen Farsi und Dari – die übrigens auf der letzten Silbe betont werden, also Farsì und Darì – ähneln sich zwar, aber das im Iran gesprochene Farsi unterscheidet sich sehr von dem in Afghanistan gesprochenen Dari (einem orientalischen Dialekt des Farsi). Geschrieben wird es genau gleich, aber völlig anders ausgesprochen. So viel dazu.
    Wenn ich Frauen sah, die mit vollen Taschen vom Einkaufen kamen, bot ich ihnen an, die Taschen die Treppe hochzutragen. Sie vertrauten mir, strichen mir über den Kopf und schenkten mir sogar manchmal Süßigkeiten. Ich träumte schon davon, hier alt zu werden, glaubte, endlich ein neues Zuhause gefunden zu haben.
    Sie hatten mir den Spitznamen Filfil gegeben, »Chilischote«. Der Ladenbesitzer, bei dem ich ab und zu einkaufte und Eis holte, sagte immer filfil mago ci resa, bokhor bibin ci tesa , was mehr oder weniger bedeutet: »Sag nicht, die Chilischote ist klein, probier lieber, wie scharf sie ist.« Dieser Mann war schon etwas älter, und ich habe mich prächtig mit ihm verstanden.
    Nach ein paar Monaten beschloss ich, Sufi zu besuchen.
    Seit seiner Abreise hatte ich nicht mehr mit ihm gesprochen, aber Bekannte, die in derselben Firma wie er in Qom gewesen waren, hatten mir von ihm berichtet.
    Das Heft mit seiner Telefonnummer hatte ich gehütet wie einen kostbaren Schatz, und eines Nachmittags rief ich in der Fabrik an. Eine Sekretärin war dran.
    Sufi wer?, fragte sie. In unserer Firma arbeitet kein Sufi.
    Gioma, sagte ich dann. Gioma, nicht Sufi.
    Gioma Fausi?, fragte die Sekretärin.
    Ja, genau der.
    Wir grüßten uns verlegen, so am Telefon. Aber trotz seiner üblichen Abgeklärtheit spürte ich, dass er genauso gerührt war wie ich.
    Ich versprach, ihn zu besuchen.
    Und so nahm ich an einem heißen, windstillen Vormittag den Bus nach Qom. Weil ich schon so lange im Iran lebte und mir noch nie etwas zugestoßen war, dachte ich gar nicht daran, dass schon eine einfache Polizeikontrolle genügt hätte, um mich in Schwierigkeiten zu bringen. Aber wie so oft, wenn man keine Angst hat, ging alles gut.
    Sufi holte mich vom Busbahnhof ab. In den letzten Monaten waren sowohl er als auch ich gewachsen (er allerdings mehr). Bevor wir uns erkannten, musterten wir uns erst für ein paar Sekunden aus der Ferne.
    Dann umarmten wir uns.
    Ich blieb eine Woche in Qom. Ich schlief heimlich in der Fabrik, und wir zogen durch die Stadt und spielten mit anderen afghanischen Jungen Fußball. Es war wirklich schön dort, aber ich wollte nicht umziehen – nicht jetzt, wo ich eine neue Heimat gefunden hatte. Also kehrte ich nach der einen Woche, die ich mir freigenommen hatte, wieder nach Baharestan zurück.
    Genau rechtzeitig, um abgeschoben zu werden.
    Es geschah mitten am Tag. Wir waren bei der Arbeit. Ich wollte gerade Putz anrühren, mischte Kalk und Zement und sah weder nach rechts noch nach links, sondern nur in den Eimer und in mich hinein – das passiert mir manchmal, dass ich in mich hineinsehe –, als ich Autos kommen hörte. Ich dachte, das wären die Lieferanten, der Bauleiter erwartete sie bereits.
    Im Iran stehen die Häuser dicht nebeneinander und teilen sich einen Innenhof. Zu diesem Hof gibt es nur zwei Zugänge, und die Polizei kam über beide. Strategisch geschickt –

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