Im Meer schwimmen Krokodile
Grunde egal war, fühlte ich mich ein bisschen zu Hause oder hoffte zumindest, dass ich es dort sein würde. Ich sehnte mich nach einem Ort, an dem man mich gut behandeln würde – was im Grunde dasselbe ist.
Ich war euphorisch.
Ich war gesund.
Ich war bester Laune.
Es war ein schöner, sonniger Tag, Sufi und ich waren noch am Leben und im Iran.
Du sagst, dass du dich großartig gefühlt hast. Wegen des Fiebers warst du sogar gewachsen. Man sagt nämlich, dass Kinder wachsen, wenn sie Fieber haben, wusstest du das?
Ja.
Wie groß bist du jetzt, Enaiat?
Ich glaube, einen Meter fünfundsiebzig.
Und als du im Iran warst?
So groß, wie man als Elf- oder Zwölfjähriger eben ist, keine Ahnung. Wie groß ist man da?
Wie viel Zeit war da seit Beginn deiner Reise vergangen?
Du meinst, seit ich aus Nawa weg bin?
Ja.
Achtzehn Monate. Ja, ungefähr achtzehn Monate.
Und als du aufgebrochen bist, warst du zehn, haben wir gesagt.
Ja, Fabio, aber genau wissen wir es nicht.
Nein, genau wissen wir es nicht.
Tja.
Zu welcher Jahreszeit bist du in den Iran gekommen?
Im Frühling.
2001.
Genau.
Zumindest auf die Jahreszahlen ist Verlass.
Nein. Auf nichts ist Verlass, nicht einmal auf meine Erinnerungen.
Aber auf die Jahreszahlen schon, Enaiat. Die Zeit verstreicht überall auf der Welt gleich schnell.
Keine Ahnung, Fabio. Da wäre ich mir nicht so sicher.
Wir waren also unterwegs nach Qom und rasten mit einem Schnellzug quer durch den Iran. Durch einen Iran, der mir beim Blick aus dem Fenster so viel grüner vorkam als Pakistan oder Afghanistan. Ich weiß noch, dass es eine wunderbare Fahrt war. Wir reisten bequem, zusammen mit zig anderen Einheimischen: Parfümduft, ein Speisewagen und saubere, weiche Sitze, auf denen man schlafen konnte.
Unser Schlepper und seine Leute saßen drei oder vier Reihen hinter Sufi, mir und den anderen Afghanen, damit sie uns gut im Auge behalten konnten. Am Bahnhof von Kerman hatten sie uns kurz vor dem Türenschließen eingeschärft: Egal, was passiert, wir kennen uns nicht, verstanden? Ihr dürft auf keinen Fall sagen, dass ihr mit uns unterwegs seid. Wenn Polizisten zusteigen und euch auffordern, ihnen zu folgen, gehorcht ihr. Regt euch nicht auf, wenn sie euch zurück zur Grenze bringen. Wir werden euch dort wieder abholen, verstanden?
Wir sagten Ja und nickten. Sie sahen uns an und fragten noch einmal, ob wir sie verstanden hätten, und da sagten wir ein zweites Mal Ja, und zwar im Chor. Um auf Nummer sicher zu gehen, fragten sie uns noch ein drittes Mal.
Ich glaube, sie waren etwas nervös. Als dann der Kontrolleur kam, gingen sie sofort auf ihn zu und zeigten ihm Papiere: Ich glaube, sie haben ihm auch Geld gegeben.
In Qom stiegen wir aus. Für einige war die Reise hier zu Ende. Die Schlepper riefen ein paar Leute an, die sie abholten. Sufi, ich und noch ein paar andere stiegen dagegen in einen Bus, der zwischen Qom und Isfahan hin- und herpendelte. Ich glaube, unser Schlepper und der Fahrer kannten sich, denn als sie sich sahen, haben sie sich auf die Wange geküsst.
Auf halber Strecke wurde der Bus plötzlich langsamer. Sufi packte meinen Arm.
Du tust mir weh!, sagte ich. Was ist los?
Ich schob die Vorhänge zur Seite, die uns vor der Sonne schützten.
Schafe, sagte ich.
Was?
Schafe. Wir haben wegen einer Herde Schafe angehalten.
Sufi ließ sich in den Sitz zurückfallen und hielt sich die Ohren zu. Eine Stunde später sind wir in Isfahan angekommen.
Erstens: Ich bringe euch an einen von mir bestimmten Ort.
Zweitens: Ihr arbeitet dort, wo ich es sage.
Drittens: Die ersten vier Monate behalte ich euren Lohn ein.
So lautete unsere Abmachung. Es war zwar schön und gut, dass bisher alles glattgegangen war. Dass sie sich um mich gekümmert hatten, als ich krank war. Dass der Zug bequem und der Bus nicht von einem iranischen Kontrollposten, sondern nur von einer Herde iranischer Schafe aufgehalten worden war. Aber jetzt ging es darum, wo und mit welcher Arbeit Sufi und ich die nächsten vier Monate verbringen würden. Und deshalb kam mir das letzte Stück Weg vom Busbahnhof in Isfahan bis zu unserer Bestimmung – »Bestimmung« und »Bestimmungsort« klingen ähnlich, nicht wahr? – länger und gefährlicher vor als die ganze bisherige Fahrerei durchs Nirgendwo.
Als wir schließlich eine verlassene Gegend am südlichen Stadtrand erreichten, brachte uns der Schlepper zu einer Baustelle. Dort wurde ein vierstöckiges Wohnhaus errichtet, das allerdings unendlich
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