Im Meer schwimmen Krokodile
lang war und zig gleich geschnittene Apartments enthielt, eines neben dem anderen. An den Arbeiten waren mehrere Firmen beteiligt, und jede hatte den Auftrag für einen Bauabschnitt erhalten. Es war sehr heiß. Wir liefen durch den Staub und umrundeten das Gebäude, bis ein großer Iraner mit kleinen Augen hinter einem Ziegelcontainer hervorkam und uns bat, ihm zu folgen.
Der Schlepper gab dem Iraner die Hand, wahrscheinlich war er der Bauleiter, denn er trug ein sauberes Hemd und hatte einen gepflegten Bart. Er stellte uns kurz vor, nannte nur unsere Namen, so als erwartete man uns bereits und hätte sich schon im Vorfeld geeinigt. Dann drehte er sich zu uns um und sagte: Passt auf!
Mehr nicht. Anschließend nahm er seine Tasche und ging.
Der Bauleiter kratzte sich am Kopf und fragte: Was könnt ihr?
Nichts, sagten wir, denn ehrlich währt am längsten.
Das dachte ich mir, erwiderte der Bauleiter. Kommt mit.
Sufi und ich sahen uns an und folgten ihm.
Das Gebäude war ein Rohbau ohne Türen und Fenster. Der Bauleiter führte uns in eine Wohnung ohne Boden fliesen – der Boden bestand aus grobem Estrich. Hier woh nen unsere Arbeiter, sagte er. Ich ging in die Zimmermitte und sah mich um. Türen und Fenster waren mit Folie abgedichtet. Es gab weder Wasser noch Gas. Das Wasser, erklärte der Bauleiter, wird mit dem Tankwagen gebracht. Und zum Kochen benutzt ihr Gaskartuschen, die in einem Geschäft ganz in der Nähe wiederbefüllt werden. Ein mit Klebeband befestigtes Elektrokabel führte an der Hauswand nach oben, kam zum Fenster herein, verlief quer über die Decke und endete in einer Glühbirne, die unweit der Tür herabhing.
Holt Sand!, befahl uns der Bauleiter. Von da hinten.
Wir kehrten mit je zwei Eimern Sand zurück, nur um zu zeigen, dass wir zwar klein, aber kräftig waren.
Schüttet ihn dort in die Ecke. Sehr gut. Glättet ihn mit dem Besen und rollt einen Teppich darauf aus. Einen von denen hier, genau. Rollt ihn aus. Hier werdet ihr schlafen, bis das Haus fertig ist. Dann ziehen wir weiter zu einer anderen Baustelle. Haltet Ordnung und denkt daran, dass ihr nicht alleine hier seid. Wer gut erzogen ist, nimmt Rücksicht auf die anderen, verstanden? Ihr werdet bald sehen, wie es hier mit dem Waschen, Essen, Beten und so weiter funktioniert. Wenn es Probleme gibt, sagt mir Bescheid, versucht nicht, sie allein zu lösen. So, und jetzt kommt mit runter in den Innenhof, stellt euch den anderen Arbeitern vor und tut, was ich euch sage.
Die Maurer, Zimmerleute, Elektriker auf dieser Baustelle hatten alle keine Papiere. Sie lebten dort, in den unfertigen Wohnungen des großen Rohbaus. Und das ganz bestimmt nicht, weil man so besser bauen oder arbeiten kann, obwohl das vielleicht auch zutrifft: Wenn man ein Haus baut, das einem zwar nicht gehört, sich aber so anfühlt, wächst es einem ans Herz, und man gibt sich mehr Mühe. Und wenn man keine Zeit mit Arbeitswegen verschwendet, kann man gleich nach dem Aufwachen loslegen und erst dann aufhören zu arbeiten, wenn man schlafen geht oder etwas isst – vorausgesetzt, man hat überhaupt noch die Kraft, etwas zu essen. Doch darum ging es gar nicht. Es war so geregelt, weil es das Sicherste war.
Niemand verließ je die Baustelle.
Die Baustelle war unsere Welt.
Die Baustelle war unser Sonnensystem.
In den ersten Monaten setzten weder Sufi noch ich je einen Fuß vor die Baustelle. Wir hatten Angst vor der ira nischen Polizei, wir hatten Angst, in Telisia oder Sang Safid zu landen. Wer das nicht kennt, ist kein afghanischer Flüchtling, denn alle afghanischen Flüchtlinge wissen, was Telisia und Sang Safid sind: zwei berüchtigte Durchgangslager. Zwei Konzentrationslager, soweit ich weiß. Keine Ahnung, ob ich mich jetzt klar genug ausgedrückt habe, es sind auf jeden Fall Orte ohne jede Hoffnung.
In Afghanistan muss man nur ihre Namen aussprechen, und schon bekommt jeder Beklemmungen. Die Sonne verdunkelt sich, und die Bäume verlieren ihre Blätter. Die Lagerpolizei soll einen angeblich zwingen, mit einer Abdeckplane in die Berge zu gehen. Ganz weit oben wird man dann in die Plane geschnürt und in den Abgrund gerollt.
Als ich noch in Afghanistan war, bin ich einmal zwei Jungen begegnet, die verrückt geworden waren. Sie führten Selbstgespräche und machten sich in die Hosen. Irgendjemand hatte mir erzählt, dass sie in Telisia oder Sang Safid gewesen waren.
Etwa drei Tage nach Sufis und meiner Ankunft bekam ich mit, wie einige Arbeiter darüber
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