Im Meer schwimmen Krokodile
zu verlieren.
Doch dann kam eines Nachts die Polizei in die Fabrik. Sie waren perfekt organisiert, hatten Laster dabei, die uns direkt zur Grenze brachten, ohne den Umweg über ein Durchgangslager zu nehmen. Und wieder wurde ich abgeschoben. Ich konnte es kaum fassen. Es war zum Verzweifeln! Die Polizei wusste, dass in der Fabrik viele Illegale arbeiteten. Sie hatte das Tor zur Lagerhalle aufgebrochen, in der wir schliefen, und uns mit Fußtritten geweckt.
Packt eure Sachen zusammen! Wir bringen euch zurück nach Afghanistan.
Ich schaffte es gerade noch, meine Sachen und den Umschlag mit Geld aus dem Spind zu holen, als sie mich auch schon fortschleiften. Wie üblich bezahlten wir die Abschiebung. Doch diesmal war die Fahrt auf dem Laster die reinste Hölle. Es fuhren so viele Menschen mit, dass diejenigen, die am Rand saßen, ständig riskierten herunterzufallen und unter die Räder zu kommen. Und die in der Mitte drohten zu ersticken. Schweiß. Keuchen. Schreie. Gut möglich, dass es auf dieser Fahrt Tote gab, ohne dass es irgendjemandem aufgefallen wäre.
Jenseits der Grenze lud man uns ab, so wie man Müll auf eine Mülldeponie kippt. Der Iran lag im Osten, dort würden mich wieder dieselben erbärmlichen Lebens umstände, dasselbe Leid wie zuvor erwarten. Kurz überlegte ich, nicht zurückzukehren, sondern stattdessen nach Westen zu gehen, dorthin, wo Nawa lag, wo meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder lebten. Dann fielen mir die Worte des Mannes wieder ein, dem ich einen Brief an meine Mutter mitgeben wollte, als ich noch in Quetta lebte, also etwa drei Jahre zuvor. In jenem Brief bat ich sie, mich abzuholen. Aber der Mann hatte den Brief gelesen und gesagt: Enaiat, ich kenne eure Lage und weiß, was in der Provinz Ghazni geschieht, wie Hazara dort behandelt werden. Du kannst von Glück sagen, dass du hier bist. Hier geht es dir zwar schlecht, aber du kannst wenigstens morgens das Haus verlassen, in der Hoffnung, abends lebend zurückzukehren. Dort weißt du nicht einmal, was zuerst dein Haus erreicht: du oder die Nachricht deines Todes. Hier kannst du unter Leute gehen und deine Waren verkaufen, während sich die Hazara in deinem Dorf nicht einmal auf der Straße zeigen dürfen. Denn wenn sie Taliban oder Paschtunen über den Weg laufen, haben diese immer etwas an ihnen auszusetzen: Entweder der Bart ist zu kurz, oder der Turban sitzt falsch, oder aber nach zehn Uhr abends darf kein Licht mehr im Haus brennen. Sie riskieren Tag für Tag wegen nichts ihr Leben. Sie riskieren, wegen eines falschen Wortes oder irgendeiner sinnlosen Regel ermordet zu werden. Du solltest deiner Mutter dankbar sein, dass sie dich aus Afghanistan herausgebracht hat. Denn es gibt viele andere, die nichts lieber täten, aber nicht die Möglichkeit dazu haben.
Also habe ich die Hände in die Hosentaschen gesteckt, tief Luft geholt und mir einen Schlepper gesucht.
Doch diesmal ging bei einer der Polizeikontrollen etwas schief: Statt einfach die vereinbarte Summe zu nehmen, begannen die korrupten Polizisten, uns auszuplündern. Man sollte meinen, dass es gar nichts zu plündern gab, schließlich waren wir alle arme Schlucker. Doch auch jemandem, der so gut wie gar nichts besitzt, kann man immer noch etwas wegnehmen. Ich zum Beispiel hatte meine Uhr, an der ich mehr hing als an allem anderen. Natürlich hätte ich mir von meinem Geld eine neue kaufen können, aber das wäre einfach nicht dasselbe gewesen. Denn dann hätte ich eine andere Uhr gehabt, diese hier war aber meine erste Uhr.
Ein Polizist zwang uns, uns nacheinander an die Wand zu stellen, und kontrollierte, ob wir auch alle unsere Ta schen geleert hatten. Wenn er sah, dass sich jemand auf fällig benahm, sich ohne Erlaubnis bewegte oder aussah wie jemand, der etwas zu verbergen hatte, stellte er sich vor ihn hin, starrte ihn an und spuckte Drohungen und Essensreste aus. Und wenn das immer noch nicht reichte, verteilte er Ohrfeigen oder Fußtritte. Als ich an die Reihe kam, wollte er schon zum Nächsten weitergehen, blieb dann aber stehen und machte noch einmal kehrt. Er baute sich breitbeinig vor mir auf und fragte: Was hast du? Was versteckst du vor mir?
Er war dreißig oder vierzig Zentimeter größer als ich. Ich starrte ihn an wie einen Berg.
Nichts.
Du lügst.
Ich lüge nicht.
Soll ich dir beweisen, dass du lügst?
Ich lüge nicht. Ich schwör’s!
Ich glaube schon, dass du lügst.
Wenn es etwas gibt, das ich nicht ausstehen kann, dann geschlagen zu
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