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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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werden. Und da ich gesehen hatte, wie er andere verprügelte, überlegte ich, wie ich ihn irgendwie besänftigen könnte. In meinem Gürtelfutter bewahrte ich noch zwei Scheine auf. Ich nahm sie und gab sie ihm, in der Hoffnung, dass das genügte.
    Daraufhin sagte er: Du hast noch etwas, stimmt’s?
    Nein, ich habe nichts mehr.
    Er gab mir eine Ohrfeige. Sie traf meine Wange und mein Ohr. Ich sah seine Hand nicht einmal auf mich zukommen. Meine Wange brannte, und in meinem Ohr ertönte sekundenlang ein Pfeifen. Dann hatte ich das Gefühl, dass mein Ohr aufging wie ein Brotfladen.
    Du lügst, sagte er.
    Da ging ich auf ihn los, biss ihn in die Wange und riss an seinen Haaren – Quatsch, natürlich nicht, stattdessen hielt ich ihm mein Handgelenk hin.
    Er verzog nur enttäuscht das Gesicht. Für ihn besaß die Uhr keinerlei Wert. Genervt nahm er sie mir ab und steckte sie in seine Tasche, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
    Dann ließen sie uns gehen.
    Ich hörte sie in der Morgendämmerung lachen.
    Als wir den Kontrollposten hinter uns hatten, fuhren wir noch ein paar Stunden bis zur nächsten Stadt. Aber inzwischen war klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Und tatsächlich tauchte irgendwann ein Auto auf, ein Polizeiauto. Es bremste, so dass die Steine in alle Richtungen davonspritzten. Die Polizisten stiegen aus und schrien: Anhalten!
    Da nahmen wir alle die Beine unter den Arm. Sie begannen, mit Maschinengewehren auf uns zu schießen, mit Kalaschnikows.
    Ich rannte und hörte, wie mir die Kugeln um die Ohren pfiffen.
    Ich rannte und dachte an die Drachenturniere in den Hügeln der Provinz Ghazni.
    Ich rannte und dachte an die Frauen von Nawa, die den Reis mit Holzlöffeln umrühren.
    Ich rannte und dachte, wie sehr mir jetzt doch ein Loch zupass käme, ein Erdloch wie das, in dem ich mich mit meinem Bruder vor den Taliban versteckt hatte.
    Ich rannte und dachte an den Sahib , an Onkel Hamid und an Sufi. An den Mann mit den großen Händen und an das hübsche Haus in Kerman.
    Ich rannte, und während ich rannte, wurde ein Mann neben mir getroffen. Ich glaube, er ist gestürzt und hat sich nicht mehr bewegt. In Afghanistan hatte ich viele Schüsse gehört. An ihrem Klang konnte ich eine Kalaschnikow von anderen Gewehren unterscheiden.
    Ich rannte und überlegte, welches Gewehr wohl auf mich zielte. Ich war klein. Ich stellte mir vor, kleiner zu sein als die Kugeln, kleiner und schneller. Ich stellte mir vor, unsichtbar zu sein oder zumindest durchlässig wie Rauch. Als ich schließlich aufhörte zu rennen – da ich bereits ziemlich weit geflohen war –, kam mir der Gedanke fortzugehen. Ich wollte einfach keine Angst mehr haben.
    Damals habe ich beschlossen, in die Türkei zu gehen oder es wenigstens zu versuchen.

Türkei
    Inzwischen hatte ich einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt, wie es so schön heißt. Und zwar nicht einmal mehr in Gedanken. Ganze Tage, ja Wochen vergingen, ohne dass ich mein Heimatdorf in der Provinz Ghazni, meine Mutter, meinen Bruder und meine Schwester vor mir sah. Dabei war mir ihr Bild anfangs Tag und Nacht vor Augen gestanden. Seit dem Tag meines Aufbruchs waren ungefähr viereinhalb Jahre vergangen, davon ein gutes Jahr in Pakistan und drei Jahre im Iran. Aber auch das nur grob über den Daumen gepeilt, wie eine Marktfrau zu sagen pflegt, die in der Nähe meines jetzigen Wohnorts Zwiebeln verkauft.
    Ich war fast vierzehn, vielleicht auch ein bisschen älter, als ich beschloss, den Iran zu verlassen: Ich hatte die Nase voll von diesem Leben.
    Nach der zweiten Abschiebung war ich gemeinsam mit Sufi in den Iran zurückgekehrt. Aber da ihm Qom mittlerweile zu gefährlich geworden war, hatte er die Stadt wenige Tage später verlassen und Arbeit auf einer Baustelle in Teheran gefunden. Ich dagegen hatte beschlossen, noch eine Weile in der Steinfabrik zu arbeiten, dort richtig zu schuften und so gut wie nichts auszugeben, um genug Geld für meine Flucht in die Türkei zu sparen. Aber wie viel kostete es, in die Türkei aufzubrechen? Und dort auch anzukommen, denn aufbrechen kann schließlich jeder? Wie viel würde ich ausgeben müssen? Manchmal muss man nur fragen, um eine Antwort zu bekommen, und so erkundigte ich mich bei einigen Leuten, denen ich vertraute.
    Siebenhunderttausend Toman.
    Siebenhunderttausend Toman?
    Ja, Enaiat.
    Dafür muss ich zehn Monate arbeiten, sagte ich zu Wahid, der auch einmal mit dem Gedanken gespielt hatte, fortzugehen, sich aber dann

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