Im Meer schwimmen Krokodile
Gliedmaßen verlor: einen Arm, eine Hand, ein Bein. Wir arbeiteten sehr viel, manchmal vierzehn Stunden am Tag. Und wenn man müde ist, lässt die Konzentration nach.
Eines Tages kam ein etwas älterer afghanischer Junge auf mich zu und fragte: Wie heißt du?
Enaiatollah.
Kannst du Fußball spielen, Enaiatollah?
Doch, ich konnte Fußball spielen, auch wenn ich im Buzul-bazi besser war, was ich allerdings seit meiner Abreise aus Nawa nie mehr gespielt hatte. Ich sagte: Ja, ich kann Fußball spielen.
Wirklich? Dann komm morgen um fünf zum Tor. Es findet ein Turnier statt, und wir brauchen noch Spieler.
Ein Turnier?
Ja, zwischen den Fabriken. Ein Fußballturnier. Kommst du?
Klar komme ich.
Der nächste Tag war ein Freitag. Ich sage das deswegen, weil das Leben in der Steinfabrik ausschließlich aus Schlafen, Essen und Arbeiten bestand. Nur der Freitagnachmittag war frei. Dann wusch man seine Kleidung oder traf sich mit Freunden. Von diesem Tag an spielte ich in der Fußballmannschaft. Sie bestand aus lauter Afghanen, alles Arbeiter aus drei oder vier nahe gelegenen Fabriken. In den Steinfabriken arbeiteten mehr als zweitausend Afghanen.
Ich habe mich gut geschlagen bei diesen Turnieren, so gut es eben ging. Auch wenn ich manchmal müde war, weil meine Schicht bis zehn Uhr abends dauerte.
Ich war schon seit einigen Monaten in der Fabrik, als ich eines Nachmittags einen unglaublich schweren Stein hob und das Gleichgewicht verlor. Der mehr als zwei Meter lange Steinbrocken fiel zu Boden. Und während dieser riesige Stein auf dem Boden zerbarst und einen Knall verursachte, den man in der ganzen Fabrikhalle hören konnte, fiel ein Stück davon auf meinen Fuß.
Es zerfetzte mir die Hose, schlitzte mir den Stiefel, die Wade und den Fußrücken auf. Ich hatte eine tiefe Schnittwunde, bis auf den Knochen. Ich schrie, setzte mich und hielt mir das Bein. Einer der Fabrikleiter eilte herbei, um zu sehen, was los war. Er meinte, dieser Stein sei sehr wertvoll und wir müssten ihn unbedingt ausliefern, sonst würde das jemand den Kopf kosten. In der Zwischenzeit verlor ich Blut.
Steh auf!, befahl der Fabrikleiter.
Ich wies darauf hin, dass ich verletzt war.
Als Erstes müssen wir an den Stein denken. Sammle die Einzelteile auf. Sofort!
Ich bat darum, medizinisch versorgt zu werden.
Sofort, sagte er. Aber damit meinte er den Stein, und nicht meine medizinische Versorgung.
Ich begann, alles aufzusammeln, während ich auf einem Bein umherhüpfte, mir das Blut die Hose durchtränkte und aus meinem Stiefel quoll. Erstaunlicherweise bin ich nicht in Ohnmacht gefallen. Keine Ahnung, wie ich das geschafft habe, heute könnte ich das bestimmt nicht mehr. Ich sammelte sämtliche Teile auf und zog dann immer noch hüpfend los, um die Wunde zu desinfizieren und zu verbinden. Damit das überhaupt ging, musste ich ein Stück Haut abreißen. Ich habe noch heute eine Narbe davon. Eine Zeit lang war an Fußball nicht zu denken.
Wegen der Wunde arbeitete ich eine Weile nur in der Küche. Als ich eines Tages einkaufen ging, entdeckte ich in einem Schaufenster eine wunderschöne Uhr. Eine aus Gummi und Metall, die gar nicht teuer war. Wie gesagt, ich hatte mir oft eine Uhr gewünscht, um ein besseres Zeitgefühl zu bekommen. Eine Uhr mit Datumsanzeige, an der ich ablesen konnte, wie ich älter wurde. Als ich die Uhr im Schaufenster sah, zählte ich das Geld in meiner Tasche. Obwohl es nicht viel war, konnte ich sie mir leisten. Also habe ich den Laden betreten und es getan: Ich habe sie gekauft.
Als ich den Laden verließ, war ich ganz aus dem Häuschen vor Freude. Es war die erste Uhr meines Lebens! Ich betrachtete und bewunderte sie, drehte das Handgelenk, um das Zifferblatt in der Sonne funkeln zu lassen. Am liebsten wäre ich bis nach Nawa gelaufen, um sie meinem Bruder zu zeigen. Wie sehr er mich darum beneidet hätte! Aber ich konnte ja schlecht nach Nawa laufen, also rannte ich los, um sie im Schrein der Fatima al-Masuma seg nen zu lassen. Das ist eine der heiligsten Stätten des schiitischen Islam, weshalb ich sie für hervorragend geeignet hielt, etwas segnen zu lassen, das mir so sehr am Herzen lag wie diese Uhr. Dieses Heiligtum befindet sich mitten in Qom. Ich streifte die Wand mit der Uhr, um sie zu heiligen, achtete aber darauf, dass sie nicht zerkratzt wurde.
Ich freute mich dermaßen über diese Uhr, dass ich mir sogar kurz einbildete, in Qom bleiben zu können – trotz der Gefahr, dort einen Finger oder sonst was
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