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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Türkei oder von Europa. Sie sagten London, mehr nicht. Wenn einer von ihnen nett war und zurückfragte, sagte ich: Irgendwohin.
    Am achtzehnten Tag sah ich sitzende Menschen. Ich sah sie in der Ferne und verstand nicht gleich, warum sie angehalten hatten. Der Wind war rasiermesserscharf, und Schnee verstopfte mir die Nase. Als ich versuchte, ihn mit den Fingern zu entfernen, waren die sitzenden Menschen verschwunden. Hinter einer Haarnadelkurve sah ich sie plötzlich vor mir. Sie würden für immer dort sitzen. Sie waren erfroren. Sie waren tot. Keine Ahnung, wie lange sie schon dort saßen. Alle anderen gingen schweigend an ihnen vorbei. Ich klaute einem die Schuhe, denn meine waren kaputt, und meine Zehen waren bereits blau und gefühllos. Ich spürte gar nichts mehr, nicht einmal, wenn ich sie an einem Stein stieß. Ich zog einem Toten die Schuhe aus und probierte sie an. Sie passten mir. Sie waren viel besser als meine. Ich machte eine Geste des Dankes. Manchmal träume ich heute noch davon.
    Zweimal am Tag gaben sie uns ein Ei, eine Tomate und ein Stück Brot. Der Proviant wurde mit einem Pferd herbeigeschafft. Aber jetzt waren wir zu weit oben, so dass kein Nachschub mehr möglich war. Am zweiundzwanzigsten Tag gaben sie die letzte Ration aus. Sie rieten uns, sie in viele kleine Stücke zu teilen, damit sie eine Weile reichte. Doch ein Ei, ein hart gekochtes Ei, lässt sich nur schwer teilen.
    Die anderen schickten mich vor und machten mir Mut: Frag!, sagten sie.
    Was hat das für einen Sinn?, sagte ich nur.
    Das ist uns egal, frag!
    Haben wir es jetzt so gut wie geschafft?, erkundigte ich mich bei einem der Schlepper.
    Da sagte er: Ja, wir haben es so gut wie geschafft. Aber ich glaubte ihm kein Wort.
    Doch am sechsundzwanzigsten Tag hatten wir den Berg hinter uns gelassen. Ein Schritt, noch ein Schritt und abermals ein Schritt, und plötzlich begann der Abstieg. Wir mussten nichts mehr erklimmen, wir hatten den Pass und damit den Ort erreicht, wo uns die Türken von den Iranern übernehmen würden. Dort zählten wir uns seit unserem Aufbruch zum ersten Mal. Es fehlten zwölf Personen. Zwölf von siebenundsiebzig. Sie waren von der Stille verschluckt worden, und ich hatte es nicht einmal bemerkt. Wir sahen uns an, als sähen wir uns zum ersten Mal, so als wären wir nicht gemeinsam unterwegs gewesen. Unsere Gesichter waren rot verbrannt. Unsere Falten glichen Schnittwunden. Die Risse bluteten.
    Die Türken, die uns bereits erwarteten, ließen uns in konzentrischen Kreisen Platz nehmen, damit wir besser vor der Kälte geschützt waren. Alle halbe Stunde hieß es Plätze tauschen: Wer in der Mitte saß, musste an den Rand, so dass sich nacheinander alle aufwärmten beziehungsweise den kalten Wind der Welt im Rücken spürten.
    Am siebenundzwanzigsten Tag – und dass es der siebenundzwanzigste war, weiß ich, weil ich sie wie Perlen um den Hals trage, und zwar jeden einzelnen davon – begannen wir mit dem Abstieg. Aus dem Berg wurden lang sam Hügel, Wälder, Wiesen, Bäche, Felder und andere Herrlichkeiten mehr. Wo es keine Bäume gab, ließen sie uns grüppchenweise weitermarschieren, damit wir nicht so auffielen. Manchmal schießen sie, sagten sie.
    Wer?
    Das spielt keine Rolle. Manchmal schießen sie.
    Nach zwei weiteren Tagen, die sich anfühlten wie Jahre oder zwei Jahrhunderte, erreichten wir Van.
    Auch Van liegt an einem See. Am Vansee. Wir waren also von einem See zum anderen marschiert. In dieser türki schen Stadt, der ersten türkischen Stadt, in der wir Station machten, suchten wir Schutz in einem Getreidefeld und schliefen eine Nacht zwischen den hohen Halmen. Einige türkische Bauern, Freunde der Schlepper, die unheimlich nett waren, brachten uns etwas zu essen und zu trinken. Ich hätte mir gern etwas anderes angezogen. Die Kleider, die ich trug, waren schmutzig und zerrissen, die reinsten Lumpen. Aber die guten Sachen, die wir in Teheran gekauft hatten, mussten wir für Istanbul aufbewahren. Ich durfte sie auf keinen Fall schon vorher durchschwitzen oder sonst irgendwie ruinieren.
    Vor Tagesanbruch scheuchte man uns aus dem Feld wie die Grillen. Man verlud uns auf Lastwagen und brachte uns zu einem Ort ganz in der Nähe. Es war eine Art riesiger Stall mit hohen Decken. Ein Stall, der keine Kühe, sondern Illegale beherbergte. Uns Afghanen ließ man neben den Pakistani schlafen, was keine gute Idee war. Und so kam es in dieser Nacht zu einem Gerangel um die Schlafplätze. Die Türken sahen sich

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