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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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erreichte den Jungen. Ich sah ihn nicht, ertastete aber sein Gesicht, seine Nase, seinen Mund. Er jammerte, wiederholte in einem fort: Wasser, Wasser, Wasser. Ich fragte einen der Umsitzenden, ob er noch etwas in seiner Flasche hätte, da meine leer sei. Aber alle hatten die ihre bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken. Da kroch ich wieder über die Leiber, bis ich einen bengalischen Jungen fand, der sagte, er hätte noch etwas Wasser, würde es mir aber nicht geben. Ich flehte ihn an. Nein. Ich bettelte: Nur einen Schluck. Nein. Währenddessen achtete ich genau darauf, woher es kam. Ich zielte mit der Faust direkt auf das Nein. Ich spürte Zähne an meiner Faust, und während der bengalische Junge schrie, ohrfeigte ich ihn heftig. Aber nicht, um ihm wehzutun, sondern nur, um an die Flasche zu kommen. Sobald ich sie ertastet hatte, entwand ich sie ihm und verschwand, was in dieser Situation nicht weiter schwer war. Ich brachte dem Jungen das Wasser und fühlte mich gut dabei, weil es mich ein Stück weit wieder zu einem Menschen machte.
    Die Fahrt dauerte drei Tage. In dieser Zeit sind wir kein einziges Mal ausgestiegen. Sie haben uns kein einziges Mal aufgemacht.
    Dann ein Licht.
    Elektrisches Licht.
    Man hat mir erklärt, dass man sich das vorstellen muss, als wachte man aus einer Vollnarkose auf. Sämtliche Konturen sind unscharf, und man hat das Gefühl, einen Berg hinunterzurollen wie in einem Autoreifen, wie in Telisia und Sang Safid . Sie ließen uns hinunterrollen, weil niemand mehr in der Lage war, auch nur den kleinen Finger zu bewegen. Die Durchblutung war unterbrochen, die Füße waren geschwollen, der Hals verrenkt. Sie begannen mit denen direkt hinter der Heckklappe. Sie ließen sie fallen wie einen Sack Zwiebeln. Dann krochen zwei Türken auf dem Bauch in den Hohlraum und holten auch uns, denn von allein wären wir dort nie mehr herausgekommen. Jede Bewegung verursachte schreckliche Schmerzen.
    Sie rollten mich in eine Ecke, wo ich zusammengeringelt liegen blieb. Keine Ahnung, wie lange. Ich war nur noch ein Klumpen Fleisch.
    Dann gewöhnten sich meine Augen langsam an das Licht, und ich sah, wo ich mich befand. In einem unterirdischen Raum. In einer Garage, zusammen mit Hunderten von anderen. Das musste ein regelrechtes Durchgangslager für Immigranten sein, eine Höhle im Bauch Istanbuls.
    Als ich mich endlich wieder rühren und durchatmen konnte, suchte ich nach einem Ort, wo ich pinkeln konnte. Wo ich alles, was ich mir auf der Fahrt verkniffen, ja drei Tage lang angehalten hatte, loswerden konnte. Man zeigte mir eine Toilette (die einzige), ein Loch im Boden. Ich ging hinein, und ein unerträglicher Schmerz fuhr mir in Beine und Magen, so dass ich fürchtete, ohnmächtig zu werden. Ich schloss die Augen, um meine Kräfte zu sammeln, und als ich sie wieder aufmachte, sah ich, dass ich Blut pinkelte, und das noch mehrere Wochen lang.
    Die anderen standen vor einem Telefon Schlange. Jeder musste seinen Schlepper im Iran anrufen, den, mit dem er sich vor Antritt der Reise geeinigt hatte. Bei mir war das Farids Cousin. Wir mussten ihn und denjenigen, der unser Geld hatte, anrufen, damit es übergeben wurde.
    Erst nachdem bezahlt war, und wirklich erst dann, sagte der iranische Mittelsmann seinen türkischen Komplizen in jener Tiefgarage in Istanbul, dass alles in Ordnung sei. Und dass die Gefangenen, sprich wir, freigelassen werden dürften.
    Hallo? Hier spricht Enaiatollah Akbari. Ich bin in Istanbul.
    Zwei Tage später verband man mir die Augen und befahl mir und anderen afghanischen Jungen, in ein Auto zu steigen. Man fuhr uns eine Weile kreuz und quer durch die Stadt, damit wir nicht mitbekamen, von wo wir aufgebrochen waren, welches Loch uns ausgespuckt hatte. Schließlich setzte man uns in einem Park ab, aber nicht alle auf einmal, sondern einen hier und einen dort.
    Ich wartete, bis das Auto verschwunden war, und nahm meine Augenbinde ab. Um mich herum funkelten die Lichter der Stadt. Um mich herum befand sich die Stadt. Erst da begriff ich, dass ich es tatsächlich geschafft hatte. Ich setzte mich hin und lehnte mich an eine Mauer. An diesem mir völlig fremden Ort verharrte ich mehrere Stunden regungslos und starrte vor mich hin. Es roch nach Frittiertem, nach Blumen und nach Meer. Vielleicht war ich mir auch selbst fremd geworden, in Istanbul, in der Türkei, auf jeden Fall habe ich im Park geschlafen, ohne mir eine Unterkunft, eine richtige Unterkunft zu suchen. Und das über einen

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