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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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einem der Schmuggler und fragte: Agha , wie weit ist es noch bis zum Gipfel?
    Er antwortete, ohne mich anzusehen: Noch ein paar Stunden.
    Ich kehrte zu meinen Freunden zurück und wiederholte: Noch ein paar Stunden.
    Wir liefen bis kurz vor Tagesanbruch, dann legten wir eine Pause ein. Die Beinmuskeln waren hart wie Zement.
    Bei Sonnenuntergang setzten wir unseren Weg wie gewohnt fort.
    Er hat dich angelogen, sagte Farid.
    Das habe ich auch schon gemerkt, sagte ich. Aber auch dein Cousin hat sich nur ziemlich vage über die Dauer unserer Reise geäußert.
    Dann musst du eben jemand anders fragen.
    Nach einer halben Stunde ging ich zu einem anderen Iraner, der eine Kalaschnikow umgehängt hatte, passte meine Schritte den seinen an und fragte: Agha , wie weit ist es noch bis zum Gipfel?
    Ohne mich anzusehen antwortete er: Nicht mehr weit.
    Was soll das heißen, nicht mehr weit?
    Noch vor Tagesanbruch.
    Ich kehrte zu meinen Freunden zurück und sagte: Es ist nicht mehr weit. Wenn wir zügig weitermarschieren, sind wir vor Tagesanbruch da.
    Alle strahlten, aber niemand sagte etwas. Die Kraft, die man zum Sprechen braucht, steckte in den Atemwölkchen, die sich vor unseren Mündern bildeten. Wir ruinierten unsere Knie, bis die Sonne in der Richtung meines Elternhauses, also in Richtung Nawa, unterging. Der Berggipfel lag nur noch wenige Schritte, ja einen Katzensprung von uns entfernt. Wir umrundeten ihn, ohne dass er sich von der Stelle rührte. Wir ruhten uns aus. Als die Sonnenstrahlen die gezackten Bergkämme aufleuchten ließen, die aussahen wie die Wirbelsäule eines Toten, kam die Karawane zum Stehen. Alle suchten sich einen Felsen, in dessen Schatten sie ihren Kopf betten und ein paar Stunden schlafen konnten. Beine und Füße ließen wir in der Sonne, um sie zu wärmen und zu trocknen. Die Haut schälte sich, aber das ließ sich nicht ändern.
    Bei Sonnenuntergang befahl man uns aufzustehen, und wir setzten unseren Weg fort. Es war die fünfte Nacht.
    Agha , bitte, wie weit ist es noch bis zum Gipfel?
    Ein paar Stunden, sagte er, ohne mich anzusehen.
    Ich gesellte mich zu meiner Gruppe.
    Was hat er gesagt?
    Nichts. Halt den Mund und lauf!
    Wir Afghanen waren die Jüngsten und am besten mit dem felsigen Gelände und der Höhe vertraut. Mit der Sonne, die einen versengt, und mit dem Schnee, der einen zu Eiszapfen gefrieren lässt. Aber dieser Berg hörte gar nicht mehr auf, er war das reinste Labyrinth. Der Gipfel stand uns stets vor Augen, blieb aber unerreichbar. Und so schmolzen zehn Tage und Nächte dahin wie Eisklumpen.
    Als wir eines frühen Morgens gerade auf Händen und Füßen die Felsen hochkletterten, bekam ein bengalischer Junge Probleme. Was ihm genau fehlte, weiß ich nicht mehr, vielleicht hatte er Atemnot oder was am Herzen, auf jeden Fall glitt er im Schnee aus und rutschte mehrere Meter nach unten. Wir begannen zu schreien, dass einer von uns in Lebensgefahr sei. Dass wir stehen bleiben, ihm helfen, warten müssten. Aber die Schlepper (sie waren zu fünft) schossen nur mit den Kalaschnikows in die Luft.
    Wer nicht sofort weitergeht, bleibt für immer hier, sagten sie.
    Wir versuchten, dem jungen Bengalen zu helfen, ihm unter die Arme zu greifen, ihn zum Laufen zu bewegen, aber das war einfach zu viel: Er war zu schwer, und wir waren zu müde, es ging nicht. Wir ließen ihn im Stich. Als wir hinter einer Kurve verschwanden, hörte ich noch kurz seine Stimme, dann gar nichts mehr: Der Wind hat seine Rufe verschluckt.
    Am fünfzehnten Tag kam es zu einer Messerstecherei zwischen einem Kurden und einem Pakistani. Warum, weiß ich nicht, vielleicht gab es Streit um Proviant, vielleicht auch einfach nur so. Der Kurde hatte das Nachsehen. Wir mussten auch ihn zurücklassen.
    Am sechzehnten Tag unterhielt ich mich zum ersten Mal mit einem pakistanischen Jungen, der etwas älter war als ich (normalerweise sprachen Afghanen und Pakistani kaum miteinander). Während wir liefen – wir befanden uns gerade in einem geschützten Bereich, in dem uns der Wind erlaubte zu sprechen –, fragte ich ihn, wohin er wolle und was er vorhabe. Welches Ziel er nach Istanbul habe. Er antwortete mir nicht gleich. Er war still und schweigsam. Er sah mich an, als hätte er mich nicht richtig verstanden, mit einem Gesicht, als wollte er sagen: Was für eine dämliche Frage! London, sagte er und beschleunigte seine Schritte, um mich abzuhängen. Später begriff ich, dass das für alle Pakistani galt. Sie sprachen nicht von der

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