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Im Meer schwimmen Krokodile

Titel: Im Meer schwimmen Krokodile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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gezwungen einzuschreiten und uns zu trennen. Und um niemanden zu diskriminieren, haben sie uns alle verprügelt.
    Wir blieben dort vier Tage eingesperrt.
    Eines Nachts – wir schliefen schon – begannen die Wände von lautem Motorengeknatter zu wackeln. Die Tür ken befahlen uns, unsere Sachen zu packen und uns zu beeilen. Sie trieben uns nach Nationalitäten getrennt zur Wand und begannen, uns grüppchenweise hinauszulassen – wahrscheinlich damit die drinnen nicht sahen, was draußen geschah: Damit sie nicht sahen, wo man uns hineinbugsierte. Wir blieben etwa zehn Minuten in einer Ecke stehen, den Stoffbeutel gegen die Brust gepresst, bis jemand rief und wir hinausgingen.
    Zuerst war ich völlig geblendet, weil die Scheinwerfer des laut knatternden Fahrzeugs eingeschaltet und auf die Tür gerichtet waren. Dann erkannte ich, dass es sich um einen riesigen Laster mit einem Riesenanhänger handelte, der mit Steinen und Kies beladen zu sein schien.
    Kommt her!, riefen sie. Hier entlang!
    Wir umrundeten den Laster und standen vor der Ladefläche.
    Steigt ein, sagten sie.
    Aber wo? Wir sahen nur Kies, Steine und Schutt.
    Der Schlepper zeigte nach unten. Ich dachte schon, wir sollten unter den Laster kriechen, aber dann sah ich genauer hin und entdeckte etwas, das mir die Augen hätte öffnen müssen. Aber ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Ich sah, dass zwischen der Ladefläche des Anhängers – der Ladefläche, mit dem Kies und den Steinen – und dem Boden des Lasters, dort, wo die Antriebswelle befestigt war – eine vielleicht fünfzig Zentimeter breite Lücke klaffte: Der Laster besaß also einen doppelten Boden. Einen fünfzig Zentimeter hohen Hohlraum, in dem wir hocken mussten, die Arme um die Knie geschlungen und den Kopf zwischen die Beine gesteckt.
    Sie gaben jedem zwei Flaschen: eine volle und eine leere. Die volle enthielt Wasser, die leere war zum Hineinpinkeln gedacht.
    Sie füllten den Hohlraum mit über fünfzig Personen. Die Verhältnisse waren mehr als beengt, schlimmer noch: Wir fühlten uns wie eine Handvoll Reis, der in der Faust zusammengedrückt wird. Als sie den Hohlraum schlossen, verschluckte uns die Dunkelheit, und ich glaubte zu ersticken. Ich dachte: Hoffentlich wird es eine kurze Fahrt. Hoffentlich dauert es nicht lange. Irgendwo beschwerte sich jemand. Ich spürte das Gewicht der Steine im Nacken, das Gewicht der Nachtluft auf den Steinen und das Gewicht des Himmels und der Sterne auf der Nachtluft. Ich begann, durch die Nase zu atmen, aber ich atmete Staub ein. Ich begann, durch den Mund zu atmen, aber die Brust tat mir weh. Am liebsten hätte ich über die Ohren oder Haare geatmet wie Pflanzen, die Feuchtigkeit aus der Luft filtern. Aber ich war keine Pflanze, und es gab keinen Sauerstoff. Irgendwann dachte ich: Wir halten an! Aber es war nur eine Kreuzung. Jetzt sind wir da, wir sind da!, dachte ich ein anderes Mal. Aber es war nur der Fahrer. Er war ausgestiegen, um zu pinkeln, das konnte ich hören. (Ich selbst muss nicht pinkeln, nein, ich muss nicht pinkeln.) Wir sind da, sagte ich, als Knie und Schultern abgestorben waren. Aber es war wieder bloß falscher Alarm: Keine Ahnung, was diesmal los war.
    Irgendwann hörte ich auf zu existieren. Ich hörte auf, die Sekunden zu zählen und mir die Ankunft vorzustellen. Alles in mir schrie vor Schmerz, auch meine Muskeln und Knochen. Und dann der Gestank. Ich weiß noch, wie es nach Urin und Schweiß stank. Hin und wieder hörte ich Schreie und Stimmen in der Dunkelheit. Keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als jemand herzzerreißend zu jammern begann, so als würden ihm die Fingernägel ausgerissen. Ich kam mir vor wie in einem Albtraum. Anfangs dachte ich, diese heisere Stimme, die sich mit dem Motorenlärm vermischte, wäre nur geträumt. Aber dem war nicht so. Wasser, sagte sie. Nur dieses eine Wort: Wasser. Aber in einem Tonfall, den ich nicht beschreiben kann. Ich wusste, wer das sagte, ich erkannte die Stimme wieder. Auch ich begann, Wasser! zu schreien, um nicht tatenlos zuzuhören. Um zu sagen: Hilfe, da stirbt einer! Aber nichts geschah, es kam keine Antwort. Trink dein Pipi, sagte ich, weil er nicht aufhörte zu weinen, aber wahrscheinlich hat er mich gar nicht gehört. Er antwortete nicht, sondern jammerte ununterbrochen weiter. Es war unerträglich. Also kroch ich über die Leiber der anderen, die mir Fausthiebe und Kniffe verpassten. Ich konnte das gut verstehen, schließlich erdrückte ich sie fast. Ich

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