Im Mond des Raben
ihrem Ast heruntergefallen wäre. Aber sie schaffte es, sich zu halten, als noch mehr Erinnerungen sie bestürmten.
Erinnerungen an die Geschichten ihrer Mutter aus der Zeit, bevor die Faol sich gegen ihre Brüder, die Éan, wandten. Oder an das helle Lachen ihrer Mutter und die tiefe Stimme ihres Vaters, wenn er in seiner Rolle als König ihres Volkes die rituellen Chrechte-Worte sprach.
Erinnerungen an den Gesichtsausdruck ihrer Tante, als Sabrine darauf bestanden hatte, sich zur Kriegerin ausbilden zu lassen und auf ihre Stellung als Prinzessin zu verzichten. Als sie ihre Familie mit ihrem Kummer alleingelassen hatte und mit ihrem eigenen auf die einzige Art und Weise, die sie kannte, umgegangen war.
Tränen tropften aus ihren Augen auf die schwarzen Federn, aber Sabrine ignorierte das.
Prinzessinnen weinten nicht, und Kriegerinnen zeigten keine Schwäche.
Das Geräusch eines Wolfes, der am Stamm des Baumes kratzte, auf dem sie hockte, holte sie schlagartig aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück.
Das Fell des Wolfes hatte eine rötlich braune Farbe, die sie nicht zuordnen konnte, und sofort verspürte Sabrine den metallischen Geschmack von Furcht auf ihrer Zunge. Sie konnte nicht fliegen, und sie hatte keine Waffen, um sich zu verteidigen. Sabrine erstarrte förmlich, als der Wolf den Kopf hob und schnupperte.
Dann knurrte er und bellte, und obwohl sie wusste, dass er sie durch das Blattwerk nicht sehen konnte, bezweifelte sie nicht, dass diese aggressiven Laute ihr galten.
Sie atmete schon beinahe auf, als er sich abwandte und weglief, doch dann fuhr er jäh wieder herum, nahm Anlauf und sprang auf den Stamm, wo er beängstigend hoch landete. Er bohrte seine Krallen in die Rinde und begann, langsam am Stamm hochzuklettern.
Sabrine blieb fast das Herz stehen. Sie wusste, dass einige ihrer Feinde gelernt hatten, in ihrer Wolfsgestalt zu klettern, um besser an die Éan heranzukommen. Die älteren Krieger hatten sie davor gewarnt, doch sie selbst war noch nie einem solchen Wolf begegnet.
In ihrer Not tat sie das Einzige, was sie konnte: Auch sie kletterte höher, indem sie von Ast zu Ast hüpfte und hoffte, die höchsten Baumwipfel erreichen zu können, die zu schwach waren, um den viel größeren Wolfskörper zu tragen.
Wie aus dem Nichts heraus kam ein riesiger heller Wolf angeschossen und stieß den rötlich braunen noch im Sprung vom Baum. Der fremde Wolf schlug unglücklich auf dem Boden auf, während der helle elegant auf allen vieren landete. Trotzdem rappelte der andere Wolf sich sehr schnell auf, fuhr herum und bleckte die Zähne.
Wieder sprang der helle Wolf ihn an, und diesmal schlug er seine Fänge in den Nacken des anderen Tieres und hob es auf wie ein erwachsener Wolf ein Junges. Doch da hörte die Ähnlichkeit auch schon auf, denn er schüttelte das kleinere Tier und schleuderte es gegen einen Baum.
Mit einem dumpfen Aufprall schlug der rötlich braune Wolf gegen den Stamm, fiel mit einem schrillen Aufjaulen zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Die Gestalt des hellen Wolfes flimmerte, und dann stand Barrs splitterfasernackter Doppelgänger am Fuß des Baumes! Sein Geruch war fast identisch mit Barrs, mit einem winzigen Unterschied nur, der Sabrine jedoch nicht entging.
»Komm herunter, Gefährtin meines Bruders! Es wird Zeit, dass wir uns kennenlernen.«
Sabrine war so schockiert, dass sie sich prompt verwandelte und zum ersten Mal in ihrem Leben von einem Ast herunterfiel, auf dem sie gesessen hatte. Aber ihre Reflexe waren gut, und so griff sie nach dem nächsten Ast und landete darauf. Sie schrie vor Schmerz auf, als ihr verletzter Arm so überanstrengt wurde, klammerte sich aber mit ihrem gesunden an dem Ast fest und tastete mit ihren Füßen vorsichtig nach einem Halt. Als sie ihn fand, schaffte sie es, zu dem Stamm des Baumes zu gelangen, wo sie sich auf einen starken Ast setzte, der hoch genug war, um von Barrs Doppelgänger nicht berührt werden zu können.
In einem ihr unerklärlichen Anfall von Sittsamkeit drehte sie ihren nackten Körper, um ihn vor den Blicken des Mannes zu verbergen.
Unerklärlich, weil sie schließlich beide Chrechte waren und Gestaltwandler ihre Kleidung oft zusammen ablegten, bevor sie eine andere Gestalt annahmen.
»Wer bist du?«, fragte sie, um ihr Erstaunen über sich selbst zu überspielen.
»Kannst du das nicht sehen?«
»Ich vermute mal, du bist Niall, Barrs Bruder.«
»Der bin ich. Mein Gesicht ist nicht so hübsch wie seins, aber
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