Im Mond des Styx - Lohmann, A: Im Mond des Styx
das Licht und brach es tausendfach in allen Farben. Gleich gegenüber dem Eingang stand ein prächtiger Greif mit halb ausgebreiteten Schwingen. Der gewaltige Schnabel schwebte fünf Schritte über ihnen, aufgerissen zu einem stummen Schrei, und die ganze monumentale Figur funkelte wie aus einem einzigen Diamant geschnitten.
Swetja fragte sich, wie man das Geschöpf hier in die Halle gebracht hatte. Die Flügel mussten nachträglich angesetzt worden sein, auch wenn man keine Fuge und keine Unebenheit sehen konnte.
Um den Greif herum und überall in den Fluren und in den Räumen gleißte kleineres, doch nicht minder schmuckvolles Kristallwerk. Irdene Schalen standen auf den Kristalltischen, gefüllt mit Kristallfrüchten, Kristallbroten und Kristallbraten. Kristallfisch ruhte kunstfertig zubereitet auf steinernen Platten. Es gab weitere Statuen – Menschen, so lebensecht, als wären sie mitten in der Bewegung eingefroren. Swetja sah einen lebensgroßen Koch aus schimmerndem Quarz, der ein Steintablett mit Kristalläpfeln auf der Schulter trug. Und zwischen diesen Äpfeln aus glasklarem Mineral lag eine echte Frucht, rotbackig und frisch. Auf einem anderen Tablett sah Swetja zwei weitere echte Äpfel – aber nicht frisch, sondern dunkel und verschimmelt.
Sie erschauerte bei dem Anblick. Die ganze prachtvolle Szenerie, die aussah wie die in Glas gegossene Vorbereitung eines Festes, bekam mit einem Mal etwas Bedrohliches. Beunruhigt schaute Swetja zu dem Kristallgreif und bemerkte weitere Unregelmäßigkeiten im Arrangement.
In der Reihe der Buffettische klafften Lücken, aber Steintabletts, Glasfrüchte und verweste Geflügelreste am Boden bewiesen, dass dort einmal Tische gestanden haben mussten, die spurlos verschwunden waren. Überall zwischen dem Kristall lagen auch richtige Speisen, aber noch viel mehr faulende Überreste. Ein feiner Geruch nach Verfall hing in der Luft.
Die verstörenden Einzelheiten inmitten des Kristallglanzes machten aus dem märchenhaften Bild einen Albtraum für Swetja, eine albtraumhafte Reminiszenz an jenen strahlenden Ball in Wajdaka, der eine so erschreckende Wendung genommen hatte.
»Hier gefällt es mir nicht«, flüsterte sie kläglich. »Ist das wirklich ein Ort, wo man einen Weisen suchen sollte?«
»Na …« Fejdor fischte sich den frischen Apfel vom Tablett und biss herzhaft hinein. »Zumindest findet man hier was zu essen. Das ist mir schon den Abstecher wert.«
»Wer bin ich«, sagte Borija, »dass ich die Lebensumstände eines Weisen beurteilen könnte? Er muss jedenfalls hier sein, warum auch immer er diesen Ort gewählt haben mag. Wenn wir ihn finden, wissen wir mehr.«
Sie suchten weiter in dem palastartigen Bau.
Ein Ball aus Kristall – aber wo waren die Gäste?
Swetja bemerkte, dass es nur Kristallfiguren von Dienern gab, aber keine festlich gewandeten Edelleute. Wer trieb einen solchen Aufwand, nur um Köche und Mägde darzustellen, aber keine eleganten Herren oder Damen in Kleid und Schmuck?
Dafür, und ganz seltsam anmutend, fand man dann und wann zwischen den Dienern weitere Fabelwesen: einen Kristalldrachen, so groß wie zwei Pferde und mit einem schnabelartig langen Maul, der mitten in einer Halle saß; einen überlebensgroßen Bären, der schimmernd in einem Flur in einer Tanzbewegung erstarrt schien.
Unwillkürlich machte Swetja ein paar Tanzschritte, dann stutzte sie. »Hört ihr?«, fragte sie. »Musik!«
Sie folgten den Klängen bis vor die Tür eines strahlend erleuchteten Saals. Die beiden Türflügel waren gleichfalls aus dünnem Kristall gefertigt, und sie brachen das Licht aus dem Raum dahinter so, dass sie von innen heraus glühten wie mit flüssigem Gold gefüllt. Swetja sah eine schattenhafte Bewegung auf der anderen Seite.
»Dort muss es sein.« Borija stieß die durchscheinenden Türflügel auf.
Ein Ballsaal lag vor ihnen, der den Vergleich mit der königlichen Halle in Wajdaka nicht scheuen musste. Alle Wände waren mit Quarz getäfelt, der ganze Raum glitzerte wie eine Diamantmine. In eigentümlichem Kontrast dazu standen die zierlichen Lüster unter der Decke, die aus schmucklosem grauen Stein gefertigt schienen, genau wie die Ketten, an denen sie hingen. Die Leuchter erstrahlten in einem hellen Licht, das den ganzen Festsaal funkeln ließ.
Die Musik drang laut durch die geöffnete Tür, doch das Orchester, das sie spielte, blieb unsichtbar. Eine einzelne Gestalt in strahlend weißem Kleid drehte sich im Tanz. Davon abgesehen war
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