Im Mond des Styx - Lohmann, A: Im Mond des Styx
lag über dem Schädel, dünn wie Pergament.
»Er hat mich berührt«, hauchte Fejdor matt. »Nur berührt.«
»Pssst.« Swetja erinnerte sich, was ihr Vater gesagt hatte, nachdem die Begleiterin der Königin sie berührt und ihr die Kraft geraubt hatte. Mit Fejdor musste etwas Ähnliches geschehen sein. »Bleibt ruhig. Ihr werdet Euch wieder erholen. Das vergeht wieder.«
Der junge Fähnrich entspannte sich in ihren Armen – und starb.
Swetja blieb einfach sitzen und weinte stumm. Sie legte die Hand auf Fejdors Stirn und drückte ihm die Augen zu. Anisja trat wieder zu ihr.
»Wer ist dieser Greis?«, fragte sie. »Was ist mit ihm passiert?«
»Einer von meinen Leuten«, sagte Swetja. »Kirus hat ihn mit Zauberei getötet.« Sie schluckte und stand auf. Behutsam legte sie Fejdors Kopf auf dem Boden ab.
»Wir müssen in den Keller«, sagte sie. »Anisja, du musst mich in Kirus’ Labor bringen, damit wir ihn aufhalten können.«
Die Magd führte sie hinaus auf den Korridor. Anisja wusste, wie das zum Ball geschmückte Herrenhaus aussehen sollte, und sie kannte die versteinerten Menschen in ihrer natürlichen Gestalt. Sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie eine weitere Veränderung bemerkte.
»Warum gehen wir in Kirus’ Keller?«, fragte sie, und der Gedanke schien ihr Angst zu machen. »Wenn das stimmt, was Ihr erzählt, dann sollten wir nach draußen und ins Dorf fliehen und uns dort verstecken.«
Swetja schüttelte den Kopf. Es gibt kein Dorf mehr , dachte sie. Laut sprach sie aus: »Wir können nicht einfach fortgehen, solange Kirus diese Macht besitzt. Er würde uns kaum ziehen lassen. Er darf nicht durchkommen mit dem, was er getan hat!«
Schlimm genug, dass wir in der Heimat nichts tun konnten!
Swetja wollte nicht ein weiteres Ungeheuer zurücklassen, das dasselbe tat wie der Geist der Königin.
So beunruhigt Anisja auch wirkte, wenn es um den Keller ging, so sorglos schritt sie im oberen Teil des Hauses durch die Gänge. Nach allem, was sie sah, nach allem, was Swetja ihr erzählt hatte, schien die Magd sich einfach nicht vorstellen zu können, dass in der vertrauten Umgebung plötzlich unbekannte Gefahren lauerten. Swetja musste sie immer wieder zurückhalten, damit sie nicht allzu forsch um die Ecke bog, während Swetja lauschte und spähte und aufmerksam blieb. Anisja eilte durch die Gänge wie bei jeder Besorgung, die sie als Magd in diesem Haus erledigt hatte, und sie plauderte unentwegt.
»Wie viele Leute habt Ihr bei Euch? Und wo sind sie jetzt?«
»Ich weiß nicht«, sagte Swetja. »Aber wenn uns jemand über den Weg läuft, hoffe ich, dass es einer von ihnen sein wird und nicht Kirus oder seine verrückte Gräfin.«
»Meine Herrin ist nicht verrückt«, sagte Anisja empört. »Sie ist wunderschön, und das ganze Land betet sie an!«
»Du hast lange geschlafen, fürchte ich«, erwiderte Swetja.
Sie kamen an einer langen Treppe vorbei, die in einem schmalen Gang steil nach oben führte. Auf dem obersten Absatz stand eine der Kristallbestien, deren Gegenwart Swetja so verstörte.
»Was sind das eigentlich für … Dinge?«, fragte sie ihre Begleiterin zaghaft.
Anisja kniff die Augen zusammen und sah die Treppe hinauf. »Ihr seht es also auch?«
»Natürlich sehe ich es!«
Das Geschöpf sah aus wie ein Stier, der auf den Hinterbeinen lief, so wie ein Mensch, der aber so hoch war wie zwei Männer und so breit wie drei. Die Zunge stach aus seinem weit aufgerissenen Maul wie eine Flamme. Er stand vornübergebeugt, so als könnte er jeden Augenblick auf sie herabstürzen.
»Sie sind plötzlich erschienen«, berichtete Anisja. »Auf der Feier. Ganz kurz, bevor … alle versteinert sind. Ich habe gehört, wie ein paar der Diener darüber getuschelt haben. Aber kaum einer hat sie überhaupt bemerkt. Ich habe sie nicht gesehen …«
Anisja sah Swetja an. »Ich meine, damals waren sie nicht aus Kristall, sondern so ungreifbar wie Rauch. Das haben die behauptet, die sie gesehen haben wollen.«
Swetja nickte. Sie dachte an die Begleiterin der Königin, die außer ihr anscheinend auch niemandem sonst aufgefallen war. Also gab es Ähnlichkeiten zwischen der Magie, die hier am Werke war, und dem, was in ihrer Heimat vor sich ging. Hatte Borija also recht gehabt, wenn er hier auf Antworten hoffte?
»Der alte Joscha«, fuhr Anisja fort, »hat behauptet, es wären die Geister des Waldes, die hier nach etwas suchen. Aber die meisten von uns meinten, es wären nur Hirngespinste, die diejenigen
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