Im Mond des Styx - Lohmann, A: Im Mond des Styx
hatte längst die Orientierung verloren.
Dann traten sie durch eine Tür und gelangten wieder in die große Kuppelhalle unter dem Turm, durch die sie schon nach ihrer Ankunft in der Zitadelle gekommen waren. Damals waren Mart und Tori an ihrer Seite gewesen und auch Anisja und Lewo. Es versetzte Swetja einen Stich, wenn sie an die Gefährten dachte, die sie an die Geister des Styx verloren hatten.
Nein. Ich kann Borija niemals verzeihen, was auch immer er jetzt für mich tut.
Sie standen auf einer sehr hohen Galerie, auf der obersten in der Halle. Hier mussten sie nur ein kurzes Stück laufen bis zu der Treppe, die in den Turm hinaufführte. Vom Grund der Halle drang Gemurmel zu ihnen empor, das Gewirr vieler Stimmen. Diesmal widerstand Swetja der Versuchung, an die Brüstung zu treten und hinabzusehen.
Am Ende der nächsten Treppe stießen sie eine weitere kleine Tür auf und standen im untersten Turmzimmer, mit Fensteröffnungen an allen Seiten. Das direkte Licht traf Swetja wie ein Schlag. Es wurde spürbar kälter. Sie keuchte nach dem Aufstieg in der dünnen Luft. Atemwolken schwebten vor ihrem Mund.
»Wenig Deckung hier«, wisperte Borija ihr ins Ohr. »Ab jetzt haben wir ein freies Turmgeschoss nach dem anderen vor uns, mit der Wendeltreppe an der Seite. Wenn einer von den Dämonen im Turm ist, müssen wir ihn zuerst bemerken!«
Swetja wandte den Kopf weg von seinen Lippen, die beinahe ihr Ohr berührten. Sie schlichen den Turm hinauf, aber alle Stockwerke waren leer. Sie gelangten in das Geschoss, wo sie sich am Vortag unter der Treppe versteckt hatten. Und dann waren sie in der obersten Kammer, wo das gewaltige Rohr aus dem Boden wuchs und zwischen alchemistischen Apparaturen vor dem blutigen Antlitz des Styx endete. Noch immer fächerte Borijas blauer Stein das Licht des Mondes auf und schickte es durch das Rohr. Aber es schwebten keine Geister mehr im Raum, und auch sonst war niemand hier außer ihnen.
»Wir können die Maschine aufhalten«, sagte Swetja und verharrte unschlüssig. Sie war sich nicht sicher, ob die Maschine überhaupt noch arbeitete. Womöglich waren die Krieger von Gehenna längst alle eingetroffen, und sie kamen zu spät, um noch etwas auszurichten.
Borija legte ihr die Hand auf den Arm. »Erst einmal müssen wir den Ausgang finden«, sagte er.
»Ihr wisst nicht, wo der ist?«, fragte Swetja.
»Die dicke Südländerin meinte, sie wären durch das Rohr gekommen, gestern, bevor sie verwandelt wurden. Es muss hier einen Zugang geben.«
Sie gingen durch den Raum. An der Stirnseite der Röhre hielt Swetja inne. Das Rohr war von einer facettierten Fläche aus Kristall abgeschlossen, durch die man in das haushohe Rund hineinschauen konnte. Der Blick war verschleiert von farbigem Licht, und zugleich seltsam klar und plastisch, als könnte man von hier aus jeden Zoll des endlos langen Rohrs zugleich sehen. Jede Bewegung des Kopfes sorgte dafür, dass man durch das Kristall einen anderen anderen Abschnitt der Röhre sah.
Und dort waren sie, die Geister des Styx. Swetja sah, wie sie das Innere der Röhre erfüllten, wie sie im Licht schwammen, wie sie über Spiegel und Linsen, mit alchemistischen Substanzen und durch Felder von magischen Spulen und Ringen und Kolben destilliert und neu zusammengesetzt wurden. Swetja sah die Krieger von Gehenna, die sich allmählich formten und Kraft gewannen – bevor sie schließlich verschwanden, fortgeschickt von einem anderen Teil der thaumaturgischen Konstruktion. Sie sah niedere Wesen des Styx, wurmartige Fetzen von Geistleben, die ausgesondert wurden und verloren im Äther schwebten.
Gebannt und abgestoßen zugleich sah sie zu und konnte den Blick nicht abwenden.
»Was ist?« Borija zog an ihrem Arm. »Kommt schon, dewa Swetjana!«
»Ich weiß nicht, ob ich dort hineinkann.«
Borija folgte ihrem Blick. Swetja wusste gleich, dass er in der Röhre nicht dasselbe sah wie sie. »Warum nicht? Da ist ein Steg und der Weg. Ich sehe nur den Zugang nicht.«
Er trat an die Seite der Röhre. Swetja ging ihm benommen nach. Sie fanden Leitern und Plattformen entlang der Röhrenwand. Borija begab sich gleich dorthin, wo sich die Röhre aus dem Boden der Turmkammer erhob.
»Da sind Luken«, sagte er. »Das müssen Zugänge ins Innere sein. Ich verstehe nur nicht ganz, wie sie verriegelt sind …«
Swetja hörte ihn scharren und schieben. Da hallte ein lauter Pfiff durch den Raum, und Swetja zuckte zusammen. Sie spähte vorsichtig um das Ende der
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