Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
Kopf hatte oder kein Jackett trug, war man für dieses Lokal wahrscheinlich ungeeignet. Tut mir leid, mein Freund. Versuch es mal in der Kneipe ein paar Häuser weiter.
Dabei war das Bagatella nichts Besonderes: ein Schuppen in einer der eleganten Querstraßen zur Via Torino, kein Fernseher, keine Cocktails, nur Wein, eine Zapfanlage für helles Bier und ein paar Flaschen Magenbitter. Doch gerade das über die Jahrzehnte gepflegte Fehlen von Details machte es zu etwas Einzigartigem: Seine Kargheit war mit der Zeit zu einem Erkennungszeichen geworden. Und für Doni war es einer der wenigen Orte, an denen er sich wirklich wohl fühlte.
Er bestellte einen Weißwein und packte die Unterlagen des anderen Prozesses aus, an dem er gerade arbeitete.
Es läuft folgendermaßen. Die Staatsanwälte des Berufungsgerichts werden jeden Monat neu eingeteilt. Sie melden für die nächste Zeit eventuelle Verhinderungen und Urlaubszeiten und erhalten dann die Termine für die Gerichtsverhandlungen, dazu die jeweiligen Prozessakten und den Dienstplan. Jede Prozessakte enthält das Urteil in erster Instanz und die Berufungsbegründung. Sie können ergänzendes Aktenmaterial einsehen.
Das Unangenehme an einer Berufung ist ihre Doppelnatur, wie Doni schon bald nach seiner Beförderung feststellte, sie ist ein Zwischending. Man trägt keine Beweise zusammen – von großen Ausnahmen einmal abgesehen –, sondern urteilt nur nach den Unterlagen, vor allem über formale Fragen. Doch im Unterschied zum Kassationsverfahren wird auch über die Tat geurteilt.
Renato stellte den Wein und ein Schälchen Erdnüsse auf den Tisch. Doni benetzte kaum die Lippen und studierte die Schriftstücke.
Dieser Prozess war komplizierter als der von Ghezal, und die Geschichte wesentlich schlimmer. In der Provinz war ein achtjähriges Mädchen von seinem Onkel missbraucht worden, in einer dieser Ortschaften im Südosten Mailands, die sich an der Umgehungsstraße aneinanderreihen wie an einer Meeresbucht.
Er schaute nach, ob die CD mit der Vernehmung der Kleinen in seiner Tasche war. Sein Bruder hatte ihn einmal gefragt, wie er es nur ertrug, den Abend damit zu verbringen, sich mit dem Notizbuch in der Hand einen Film anzuschauen, in dem zwei Psychologen mit einem kleinen Mädchen über die erlittenen Grausamkeiten sprachen. Die Antwort war einfach: Er konnte es nicht ertragen. Er tat es, das war alles. Irgendwann kommt der Punkt, da die Fakten wieder zu dem werden, was sie sind – Fakten. Um das alles auszuhalten, muss man jedes Ereignis von seiner Bedeutung trennen. Nur die Rechtssache zählt, nur die Gestalt des Bösen, nicht die Moral.
Doni nahm noch einen Schluck von dem kühlen, wohlschmeckenden Wein. Er schaute sich um. Außer ihm waren da nur noch eine Frau um die vierzig, die in einer Zeitung blätterte, und zwei über ein Schachbrett gebeugte Männer. Er sah in der Stadt niemanden mehr Schach spielen. In den sechziger Jahren, zur Zeit von Bobby Fischer, war das Mode gewesen. Die Tische in den Bars waren voller Amateure, und im Park benutzte jemand einen Wecker als Schachuhr, ohne überhaupt zu wissen, wie das funktionierte.
Unvermittelt setzte sich Renato an seinen Tisch. Doni staunte, denn das war ungewohnt.
«Wie geht’s, Dottore?»
«Ganz gut.»
«Arbeiten Sie sogar noch in der Bar?» Er wies auf die Akten. Automatisch räumte Doni sie zusammen.
«Ja. Das hört nie auf.»
«Wem sagen Sie das. Ich arbeite, wenn die anderen, Sie ausgenommen, sich hier ausruhen. Und dann noch das ganze Drumherum: die Bestellungen, das Putzen, die Händler, der Papierkram. Ich komme praktisch keine Sekunde zur Ruhe.» Er kratzte sich die Hand. «Tja, und außerdem ist das jetzt sowieso nicht gerade die schönste Zeit.»
«Was ist denn passiert?»
«Mir gar nichts.» Er verstummte für einen Augenblick und vergewisserte sich, dass niemand ihn brauchte. «Entschuldigen Sie, wenn ich Sie hier so belästige, aber meinem Sohn geht es nicht gut. Sie haben Lungenkrebs bei ihm festgestellt.»
«Du liebe Güte», sagte Doni.
«Ja.»
«Das tut mir sehr leid. Wie alt ist er denn?»
«Fünfunddreißig. Haben Sie Kinder, Dottore?»
«Eine Tochter, ja.»
«Dann können Sie mich ja verstehen.»
Sie schwiegen. Doni starrte auf sein beschlagenes Weinglas.
«Wissen Sie was?», fuhr Renato fort. «Ich glaube, man kann sich drehen und wenden, wie man will, man schafft es doch nie, alles unter einen Hut zu bringen.»
Doni schwieg immer noch und wartete darauf, dass
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