Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
sich, so als wäre in jedem Sauerstoffmolekül ein Samen verborgen. Jetzt war es nicht viel anders.
Er sah, wie sich ein Marokkaner oder Algerier sein T-Shirt auszog, um einen anderen Mann zum Faustkampf herauszufordern. Die beiden Körper in der Abendfrische schienen zu leuchten. Sie lebten und pulsierten mehr als alles andere. Rings um sie her bildete sich eine Menschentraube, doch die meisten Leute begnügten sich mit einem kurzen Blick, bevor sie weitergingen. Die zwei Männer griffen sich mit kurzen Schlägen gegen die Brust an. Dann hörten sie auf und musterten sich. Er und Elena waren schon an ihnen vorbei, so dass Doni sich umdrehen musste. Der Querschnitt der Straße wie ein Altarbild. Wo war die Polizei geblieben, die er soeben noch gesehen hatte?
Sie gingen weiter. An einer Verkehrsinsel ein parkendes Auto, aus dem laute Musik drang. Drei Südamerikaner ließen eine Flasche Heineken kreisen. Eine Frau, die zu ihnen gehörte, deutete mit ihrem dicken Bauch wackelnd einige Tanzschritte an und brach in Lachen aus. Ein alter Mann führte seinen Hund spazieren. Zwei junge Mädchen saßen rauchend vor einer Wäscherei und schauten in den Himmel.
Er dachte an seine Cousine Lara. Mit zweiundfünfzig Jahren hatte sie angefangen, Anxiolytika zu nehmen. Von einem Tag auf den anderen hatte sie Angst vor anderen Menschen bekommen. Vor egal wem. Es fiel ihr schwer, das zu akzeptieren, denn sie hatte immer ein normales Leben geführt. Sie war Sekretärin in einer Bank. Verheiratet, drei Kinder. Von heute auf morgen hatte sie Angstattacken bekommen. Es liege an den Leuten, sagte sie. An den Menschen: den Menschen von Mailand. Sie konnte diese Geschichte nicht einordnen, sie nicht benennen, also nahm sie Anxiolytika. Dann ging es vorbei.
Ein Dönerladen. Rote Tische im Freien, ein Mann rauchte unter dem Plastikvordach Wasserpfeife. Teller voller Fleisch und Gewürze, Teegläser. Der Fleischer von nebenan schrie dem Besitzer etwas auf Arabisch zu.
Ein südamerikanisches Restaurant, geführt von Chinesen.
Ein bangladeschisches Lebensmittelgeschäft. Dort räumte ein Mann eine Gemüsekiste ins Ladeninnere. Aus dem von weißlichem Neonlicht kaum erleuchteten Dunkel sah Doni das Rot der Paprika blitzen. Weiter.
Die Häuserfassaden wirkten salzzerfressen und die Balkons verwahrlost, doch es lag etwas Würdevolles in dieser Vernachlässigung. Der ganze Ort war anders, und Doni musste wieder an den Justizpalast denken – diese beiden Orte existierten in ein und derselben Stadt.
Auf der linken Straßenseite ein weiteres Lebensmittelgeschäft. Drei junge Burschen saßen vor dem Schaufenster, und der Besitzer reichte ihnen Bier heraus. Das erstaunte Doni zunächst, doch dann sah er, dass die Scheibe zerbrochen war. Es gab sie gar nicht. Der Besitzer verkaufte praktisch auf der Straße.
Als sie am Piazzale Loreto ankamen, nahm Doni seine Tasche von der Rechten in die Linke und gab der Journalistin die Hand. Mit einem kindlichen Lächeln sah sie ihn an. Sie hatten kein Wort mehr gewechselt.
«Und?», sagte sie.
«Was – und?»
«Hat es Ihnen gefallen?»
Doni zuckte mit den Schultern. «Es unterscheidet sich vom Rest der Stadt, das ohne Frage.»
«Es ist eine Welt, die sich nur langsam erschließt.»
«Ich habe eine Straßenschlägerei gesehen, das ist nicht gerade die Art, mit der man mich überzeugen kann.»
Sie lächelte wieder, ohne erkennbaren Grund.
«Na gut. Vielleicht haben wir ja noch eine zweite Chance.»
«Wer weiß. Jetzt muss ich aber wirklich gehen. Auf Wiedersehen.»
Sie schüttelten sich die Hand.
«Nur eines noch, Dottore», sagte sie.
«Ja?»
«Könnten Sie mich duzen?»
«Warum denn?»
«Es ist mir unangenehm, wenn Sie mich siezen.»
Doni seufzte.
«Na gut, Elena.»
«Danke. Schon viel besser.»
«Ich muss jetzt wirklich los.»
«Ja. Natürlich. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so lange aufgehalten habe.» Sie fügte hinzu: «Ich hoffe, dieser Abend war nicht umsonst.»
Doni suchte nach einer Antwort. Am Ende sagte er nichts.
«Können wir wenigstens sagen, dass Sie auf unserer Seite sind?», fragte Elena.
Verblüfft starrte Doni sie an.
«Wir können überhaupt nichts sagen.»
14
IN DIESER NACHT schlief Doni wenig und schlecht, noch vor dem Morgengrauen wachte er auf. Er hatte noch den Ekel vor jenem Sofa und jenen Leuten in den Fingerspitzen, dieses Gefühl der Irrealität wegen des Abstechers aus dem Justizpalast, weit über seine Aufgaben und Kompetenzen hinaus. Verdammte
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