Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
Nordafrikaner, dachte er. Was hatte ihn da nur geritten?
Noch im Pyjama ging er in die Küche und kochte sich einen Earl Grey. Er nahm den Teekessel etwas früher vom Herd, um das Pfeifen zu verhindern, gab einen Teebeutel in die Tasse und schloss die Augen.
Eine Viertelstunde später kam Claudia zu ihm. Sie band sich den Gürtel ihres Morgenrocks zu.
«Ist dir nicht gut?», fragte sie.
«Ich hatte Albträume», sagte Doni. «Ich wollte dich nicht wecken.»
Claudia verzog das Gesicht.
«Was denn für Albträume?»
«Nichts Konkretes. Albträume eben.»
Sie nickte und setzte sich ihm gegenüber. Dann warf sie einen Blick auf seine Tasse.
«Schwarzer Tee oder Kräutertee?»
«Schwarzer.»
«Willst du frühstücken?»
«Das ist mir noch ein bisschen zu früh.»
Sie sahen beide zur Wanduhr, einem verzierten Keramikteller. Zwanzig vor sechs.
«Ja, wirklich», sagte sie lächelnd. «Wir können uns ja aufs Sofa setzen und ein bisschen Musik hören. Was meinst du?»
«Ich meine, es ist schon eine ganze Weile her, seit wir zusammen Musik gehört haben.»
«Du sagst es.»
Claudia suchte die Kinderszenen , gespielt von Martha Argerich, heraus. Bei Doni vermischte sich dieser Augenblick mit dem Aperitif einige Tage zuvor, als er nach der Lektüre von Elena Vicenzis E-Mail nach Hause gekommen war, und ihn durchlief ein Zittern, ein Unbehagen. Claudia nahm seine Hand.
«Wie geht es dir?», fragte sie.
«Ganz gut.»
«Hör mal», fuhr sie fort. «Es tut mir leid, dass ich neulich Abend so grob zu dir war.»
Seit dem Abendessen mit dem Alten und dem Hustenanfall hatten sie tatsächlich nicht mehr miteinander gesprochen. Doni schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Tee.
«Ist schon gut.»
«Es tut mir wirklich leid.»
«Keine Ursache», bekräftigte Doni.
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Doni stellte sich Martha Argerich im Aufnahmestudio vor, wie sie die Tasten ihres Instruments fast unmerklich berührte: Dieses ganze Talent, diese ganze Mühe nur dafür, einen kurzen Augenblick der Schönheit zu erschaffen, sie für jeden Wirklichkeit und ein Genuss werden zu lassen, sie von einem Ende der Welt ans andere zu tragen, bis in dieses Wohnzimmer hinein, zu diesem bürgerlichen Ehepaar in Mailand, zu ihm und zu ihr, einem Staatsanwalt und einer Unternehmensberaterin, die zusammen alt geworden waren.
Sie hielten sich an den Händen. Doni dachte an Elisa, gern würde er ihr ein Foto von diesem Moment schicken. Ein Bild, auf dem ihre Gestalten im Dunkel kaum zu erkennen waren: Sieh mal, deine Eltern lieben sich immer noch.
«Schön ist das», sagte Claudia.
«Ja», sagte Doni und bemerkte, dass sie flüsterten. Wie zwei Achtzehnjährige, die spät nach Hause gekommen waren und die Mutter des einen oder des anderen nicht aufwecken wollten, nur darauf bedacht, die Stille zu erhalten und den Zauber der ausgehenden Nacht nicht zu zerstören.
Eine Weile blieben sie so sitzen. Dann sprang Doni plötzlich auf und lief ins Bad.
Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und sah, wie die Tropfen am Spiegel herabrannen. Er hatte schlaffe Wangen und einen Zweitagebart, weiß. Mit beiden Händen umklammerte er das Waschbecken.
Du Idiot, dachte er. Du Idiot.
Wieder bespritzte er sich Gesicht und Hals, so dass sein Pyjama nass wurde. Dann hörte er Claudia an die Tür klopfen und etwas sagen. Ihre Stimme wurde vom Klopfen übertönt.
«Ist alles in Ordnung?», fragte sie.
«Ja, ja. Ich komme gleich.»
«Sicher? Du bist so schnell verschwunden.»
«Ja», wiederholte Doni. «Nur ein … Ich komme gleich.»
Er warf noch einen Blick in den Spiegel. Dann verließ er das Bad.
Doni arbeitete den ganzen Vormittag mit einiger Mühe und suchte nach dem Mittagessen Trost in der Bar im Justizpalast.
Sie sah aus wie ein Bahnhofsrestaurant in der Provinz, die Ausstattung aus Holz, ein langer Tresen und zu viele Leute, die anstanden, wobei sie mit den Fingern trommelten oder mit einer Zigarette auf ihre Uhr klopften. Doni wäre es lieber gewesen, wenn es solche Orte im Palazzo nicht gäbe, doch es gab sie. Widerstandsnester, in denen sich die Leute trafen, um zu reden, um wieder normal zu werden und um so zu tun, als wären sie in einem x-beliebigen Büro.
An einem der drei Tische auf dem Gang, schlichten, runden Holzplatten mit einer verstärkenden Metallumrandung, tranken Dellera und Recalcati Kaffee, zwei Kollegen aus der Oberstaatsanwaltschaft. Doni kam vom Tresen und stellte seine
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