Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman

Titel: Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
Vom Netzwerk:
Familie am Tisch sitzen zu dürfen.«
    »Nehmen Sie Platz, Dr. LeDeux. Chula, würdest du bitte als Gastgeberin fungieren?«
    Er setzte sich in einen Clubsessel neben Thomasina.
    »Cocktail gefällig?«, fragte Chula.
    »Irgendwas on the rocks«, sagte er.
    Chula füllte ein Glas mit Eis und gab Bourbon darüber. Als sie ihm den Drink reichte, musterte sie seinen Anzug. Er passte ihm gut, er selbst allerdings sah ganz und gar nicht vertrocknet und blass aus, wie sie es insgeheim von Akademikern erwartet hatte. Seine helle Haut war leicht gebräunt, die Haare schimmerten golden.
    »Mutter sagt, Sie sind Dozent an der LSU , aber sie konnte nicht sagen, was Sie unterrichten.«
    »Ich bin Sozialanthropologe. Was mich nach New Iberia führt, sind die kürzlichen Ereignisse im Zusammenhang mit einem Mord.«
    Er war intelligent, das, dachte sich Chula, ließ sich an den Augen ablesen. Aber er war doch sicherlich nicht hier, um sich mit dem abergläubischen Geschwätz der Leute abzugeben. »Sie interessieren sich für den Mord? Oder für das Gerede über den loup-garou ?«
    »Letzteres. Ich arbeite an einem Buch über die Auswirkungen lokaler Legenden auf die soziale Dynamik der Gesellschaft.«
    »Mit einem aufgebrachten Mob ist nicht zu spaßen, Dr. LeDeux. Sie haben doch nicht vor, sich mit dem abergläubischen Geschwafel der Leute zu beschäftigen?«
    »Chula, Liebes, sei nicht so vorlaut.« Mrs. Baker bedeutete Chula, sich zu setzen. »Maizy hat ein paar Canapés vorbereitet. Ich denke, Dr. LeDeux wird sie sehr viel reizvoller finden als deine Fragen.«
    »Ganz und gar nicht, Mrs. Baker. Ich finde es sehr anregend, mit jemandem über die Bedeutung örtlicher Folklore reden zu können. Und, bitte, nennen Sie mich John.«
    »Worum geht es in Ihrem Buch, John?«, fragte Chula und nahm sich ein kleines Stück Gebäck vom Tablett, das Maizy herumreichte.
    »Dass Ungeheuer und Schreckgestalten für die psychische Gesundheit einer Gemeinschaft eine wichtige Rolle spielen. Dunkles und Helles müssen im Gleichgewicht stehen.«
    Chula ließ sich neben ihrer Mutter auf der Sofalehne nieder und nippte an ihren Bourbon. »Psychische Gesundheit?«
    »Eltern erzählen die alten Legenden, um ihre Kinder einzuschüchtern. Damit ihnen nichts zustößt. Diese Legenden wurden zu einem ganz bestimmten Zweck geschaffen. Nehmen Sie zum Beispiel den loup-garou . Ziel ist, kleine Kinder davon abzuhalten, in die Sümpfe zu laufen, wo sie sich verirren oder von wilden Tieren angefallen werden können. Habe ich recht?«
    »Bis zu einem gewissen Punkt.« Chula bemerkte das siegessichere Lächeln ihrer Mutter, worauf ihr bewusst wurde, dass sie Thomasinas kupplerischem Komplott aufgesessen war. Ihre Mutter hatte einen Mann ausgesucht, der ihr ebenbürtig war. Einen Mann, der ihr bei jedem Gespräch contra geben konnte und sich von ihrer Meinung nicht abschrecken ließ.
    John beugte sich vor. »Diese Legenden und Geschichten wurden zu einem bestimmten Zweck geschaffen, aber wenn sie die Grenzen dieses Zwecks überschreiten, wird das empfindliche Gleichgewicht gestört.«
    »Und die Folge ist eine schreckliche Tragödie.« Chula nahm sein Glas, um nachzuschenken.
    »Ja. Neigt sich das Gleichgewicht in die eine oder andere Richtung, so belegen meine Forschungen, steht am Ende immer eine Tragödie. Die Hexenprozesse in Salem sind das beste Beispiel dafür.« Seine Finger berührten ihre Hand, als er das Glas entgegennahm. »Und jetzt bin ich hier in New Iberia, um diesen Prozess zu studieren.«
    Chula schluckte und konnte sich seinem durchdringenden Blick nicht entziehen. »Ich hoffe, es gibt nichts zu studieren. Adele Hebert ist kein loup-garou , und je schneller diesem Blödsinn Einhalt geboten wird, umso besser ist es für die Gemeinde.«
    »Das Problem mit der Hysterie ist nur, sie lässt sich nicht so leicht beenden. Sie entwickelt sich zwar oft genug aus dem Nichts, hält sich dann aber sehr hartnäckig.« John lehnte das Canapé-Tablett ab. »Die Macht der Mythen oder Legenden ist so stark, dass Vernunft nichts mehr ausrichten kann. Die jungen Mädchen, die bei den Hexenprozessen aussagten, peitschten sich in ihren Gefühlen gegenseitig hoch. Es würde mich nicht im Mindesten überraschen, wenn weitere Berichte über einen loup-garou eintreffen würden. Wenn das passiert, stehen der Gemeinde gefährliche Zeiten bevor.«
     
    Die Sonne stand in den Baumwipfeln und streckte ihre orange- und fuchsienfarbenen Finger über den westlichen Horizont.

Weitere Kostenlose Bücher