Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
richtigen Fragen. Nur, ich hab keine Antworten.« Er warf seine Kippe auf die Straße. Wie konnte Adele davon nur so besessen sein? War die Familie verrückt – irgendein Defekt, der zu Geisteskrankheit führte?
»Das Gerede vom loup-garou macht den Leuten Angst.«
»Die Leute sind dumm.« Raymond schüttelte zwei weitere Zigaretten heraus. »Schon was zum Abendessen gehabt?«
»Nein, Sir. Sheriff Joe hat mir nichts gebracht.«
Meistens vergaß Joe, dass Pinkney weder Geld noch was zu essen hatte. Raymond nahm einen Dollar aus seiner Brieftasche und gab ihn dem Alten. »Wenn du zu Estella gehst, dann hör dich um, was die Leute so sagen.«
»Big Ethel wird’s überall herumposaunen.«
Raymond nickte. »Hör dich um, was sie erzählt und was die Leute sagen. Frag vielleicht auch nach Henri Bastion und was er in letzter Zeit so vorhatte. Mir sind da ein paar Sachen zu Ohren gekommen, aber keiner wollte so recht damit herausrücken.«
»Die Leute haben vor Henri Bastion Angst gehabt. Bevor er einen anspuckte, hat er ihn lieber gleich tot geprügelt.«
»Mir ist kein Einziger untergekommen, der seinen Tod bedauern würde.« Das allein war beängstigend genug. Noch beängstigender war die Tatsache, dass der Täter frei herumlief. Raymond zog einen weiteren Dollar-Schein aus der Brieftasche. »Bring mir ein Wels-Sandwich mit.«
»Geht in Ordnung, Mr. Raymond. Bin gleich wieder da.«
Pinkney ging, und Raymond lehnte sich zurück und beobachtete die Wagen, die gelegentlich vorbeifuhren. Zwei Pärchen kamen Hand in Hand auf dem Weg ins Kino vorüber. Unter der Woche kostete der Eintritt nur fünf Cent. Manchmal schlüpfte er auf einen der hinteren Plätze und ließ sich von den Hollywood-Bildern an seine naiven Träume über Romantik und Liebe erinnern. Mittlerweile verließ er häufig den Saal, noch bevor der Film zu Ende war.
Ein Film wäre eine nette Ablenkung, aber die fünf Cent konnte er sich sparen. Adele Hebert ließ ihn nicht los. Er hatte mit den meisten Beteiligten gesprochen und bislang nichts gefunden, was auf Adeles Schuld oder Unschuld hinwies. Bei der nächsten Sitzung des Gerichts würde sie des Mordes an Henri Bastion angeklagt werden. Falls sie dann noch lebte.
Aus dem, was er über Adele erfahren hatte, konnte er sich ein Bild über ihr Leben machen. Niemand war in der Lage gewesen, ihr für die Nacht, in der Henri ermordet wurde, ein Alibi zu geben. Adele lebte allein. Seit dem Tod ihrer Kinder hatte sie sich sonderbar verhalten. Sie war vom Doc und anderen eines Nachts gesehen worden, als sie den Teche hinuntergepaddelt kam, manchmal war sie ziellos durch die Stadt gewandert. Kein Einziger hatte auch nur einen Finger gerührt, um ihr zu helfen. Die meisten kannten sie als die Schwester von Rosa Hebert, der Selbstmörderin, die von sich behauptet hatte, eine Stigmatisierte zu sein. Laut dem örtlichen Klatsch hatte das Leben ihrer Schwester auf Adele abgefärbt, ganz so, als wären der Stand der Heiligkeit oder der Irrsinn ansteckend.
Näher kommende Schritte rissen Raymond aus seinen Gedanken. Pinkney setzte sich und reichte ihm ein warmes Sandwich aus dem frischen, krustigen Brot, das Estella jeden Mittwoch backte.
»Irgendwas Interessantes gehört?«, fragte Raymond, während er die Leinenserviette zurückschlug und in das mit Meerrettich und scharfer Sauce gewürzte Sandwich biss.
»Die kriegen sich gar nicht ein!« Pinkney pulte mit einem Zahnstocher zwischen den Zähnen herum. »War bei Ethel in der Küche, und sie sagt, die Neger haben alle Angst, die wollen nachts nicht mehr vor die Tür. Sie zünden Feuer an und warten mit ihren Gewehren, dass der loup-garou kommt und sich die Kinder holt.«
Raymond nahm einen weiteren Bissen. Pinkney war am besten, wenn man ihn einfach reden ließ. Wenn Joe Como das jemals lernen würde, könnte er feststellen, dass Pinkney eine unschätzbare Informationsquelle war.
»Big Ethel sagt, gestern wären zwei Männer im Restaurant gewesen und hätten gesagt, Henri Bastion hat nur bekommen, was er verdient hat.«
»Hat sie die Männer gekannt?«
»Nein. Aber sie waren mit Praytor Bless da.«
Raymond nahm einen weiteren Bissen. Wie Veedal Lawrence war Praytor Bless kerngesund, hatte aber nie in der Armee gedient. Gerüchten zufolge hatte er ein schwaches Herz, aber Raymond hatte gesehen, wie er riesige Sumpfzypressen aus dem Wasser gezogen hatte, um einen Pier zu bauen. Praytor wirkte gesund und munter, hatte sich aber nie vom Rockzipfel seiner
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