Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
Adele Heberts Haus bildete eine dunkle Silhouette vor dem violetten Himmel. Raymond stieg die beiden Holzstufen hinauf und ging über die Veranda zum Eingang. Die Tür ließ sich mit einer Drehung des Knaufs öffnen.
Als er eintrat, wurde ihm klar, warum Adele keinerlei Notwendigkeit gesehen hatte, abzusperren. Das Haus, das lediglich aus einem einzigen Raum bestand, war spärlich eingerichtet. Ein Tisch und zwei Stühle, ein Schrank mit Schubladen und ein Lager auf dem Boden nahmen die linke Seite des Raums ein. Hinten befanden sich ein Kanonenofen und Küchenregale. Rechts, neben einem leeren offenen Kamin, stand eine Wiege. Sie war aus Sumpfzypressen gefertigt, verzapft und verdübelt, eine wunderbare Arbeit, die mit gelben Tüchern und Bändern behängt war. Es war der einzig schöne Gegenstand im ansonsten tadellos sauberen Haus. Obwohl Raymond sich Gefühle versagte, konnte er sich nicht des Bildes von Adele erwehren, wie sie ihre im Sterben liegenden Kinder wiegte. Niemand hatte es verdient, so leiden zu müssen. Vielleicht hatte sie den Wahnsinn der quälenden Wirklichkeit vorgezogen, aber auch das machte sie noch lange nicht zur Mörderin.
Raymond ging zum Schrank. Zwei Kleider und ein Nachthemd hingen an Bügeln, Unterwäsche war ordentlich zu einem Stapel zusammengelegt. Er nahm die Sachen heraus. Adele brauchte etwas zum Anziehen. Ein Paar Schuhe, verstaubt, aber in gutem Zustand, legte er zu den Dingen, die er ihr mitbringen wollte.
Er ging zur Küche. Die Regale waren leer. Einmachgläser schimmerten im einfallenden Sonnenlicht; sie waren leer und gespült. Jemand war hier gewesen und hatte alles gründlich geputzt, aber wer und warum? Adele hatte keine Freunde. Sie war eine Einzelgängerin. Ihre einzige noch lebende Schwester schämte sich für ihre sonderbare Familie. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass Bernadette, die meilenweit entfernt wohnte, zum Putzen hierhergekommen war. Aber jemand war hier gewesen. Vielleicht um die Spuren der Lebensmittel zu tilgen, die man Adele zu essen gegeben hatte?
Zögernd, widerstrebend ging Raymond zur Wiege. Der Schmerz war in dieser Ecke des Raums fast mit Händen zu greifen. Clifton Heberts Name war ins Holz geschnitzt. Raymond war überrascht, dass der Mann aus den Sümpfen die Wiege für seine Schwester gemacht hatte. Clifton hatte so getan, als würde er nicht viel für seine Schwester empfinden. Die Wiege bewies das Gegenteil. Er musste Stunden damit zugebracht haben, dieses Kunstwerk für Adeles Kinder zu schaffen.
In der Wiege lagen Stofftiere, selbst gemacht aus Kattun und Mehlsäcken und mit Gräsern aus dem Sumpf ausgestopft. Ein verknautschter Hund mit Knopfaugen und einem roten Stofffetzen als Zunge lag unter der handgefertigten Decke. Raymond besah sich den Hund genauer und legte ihn dann behutsam in die Wiege zurück.
Es war nichts im Haus, was Adele hätte helfen können. Nichts. Er war bitter enttäuscht. Er hatte etwas zu finden gehofft, was ihr seltsames Verhalten erklären würde. Sollte sie wirklich verdorbene Lebensmittel gegessen haben – oder gar vergiftet worden sein –, so war davon im Haus nichts mehr zu finden. Die peinliche Sauberkeit schienen seine Mutmaßungen zu bestätigen. Nichts, was er vor Gericht verwenden könnte. Er nahm die Sachen und ging.
Die Nacht war hereingebrochen, als er in die Stadt zurückkehrte. Die Straßen in New Iberia lagen in Dunkelheit. In manchen Häusern brannte Licht, die Stadt allerdings hatte sich schon auf die Nacht vorbereitet. Er parkte vor dem Sheriffbüro und stieg aus.
Pinkney Stole saß auf der Bank vor dem Büro. Raymond ließ sich neben ihm nieder. Er schüttelte eine Camel aus der Packung und bot sie dem Alten an.
»Sheriff Joe ist ziemlich sauer, weil Sie die Gefangene weggebracht haben.« Pinkney blies den Rauch in die stille Nacht.
»Er wird’s überleben.«
»Ich frag nicht bloß, wird sie’s überleben? Hat jedenfalls nicht so ausgesehen.«
Pinkney tat zwar so, als bekäme er nicht viel mit, aber er war alles andere als dumm. Raymond stieß eine blaue Rauchwolke aus. »Ich weiß es nicht. Vieles wäre einfacher, wenn sie nicht überleben würde.«
»Das Mädel hat Henri Bastion nicht umgebracht, oder?«
Raymond überlegte, wie er am besten darauf antworten sollte. Er entschied sich für die Wahrheit. »Nein.«
»Wer war es dann?«
»Wenn ich das wüsste, würde ich denjenigen verhaften.«
»Warum meint das Mädel, sie wär besessen?«
»Pinkney, du stellst die
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