Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
ein und legte ihrer Kollegin den Arm um die Schulter. »Wie schlecht steht es um Justin?« Als sie der Lanoux-Familie den Brief zugestellt hatte, wusste sie, dass Justin verwundet war und nach Hause kommen sollte; bereits damals hatte sie befürchtet, dass seine Verwundung schwerwiegend war und sein ganzes Leben verändern würde, aber sie hatte gehofft, er würde mit der Zeit genesen.
Claudia sah mit tränenverschmiertem Gesicht auf. »Mrs. Lanoux und ich, wir durften ihn nicht sprechen. Er will niemanden sehen. Sie sagt, er weigert sich, sein Zimmer zu verlassen, er sitzt im Dunkeln, isst nichts und redet mit niemandem. O mein Gott, Chula. Erinnerst du dich noch, wie viel Blödsinn Justin immer gemacht, wie er sich immer in Schwierigkeiten gebracht hat? Was haben sie bloß mit ihm angestellt?« Sie zog die Knie an die Brust und weinte lautlos.
Chula rieb ihr sanft den Nacken. Sie hätte noch einige Fragen stellen wollen, spürte aber, dass Claudia darauf keine Antworten hatte. »Gib ihm Zeit, cher . Er war nicht lange im Krankenhaus. Vielleicht sind seine Verletzungen nicht so ernsthaft, wie wir meinen. Männer ertragen es nur schwer, wenn sie krank sind.«
Die Glocke am Eingang bimmelte, der Geruch von Wild-Root-Haartonikum wehte ins Postamt. Chula sah auf. Praytor stand am Schalter und sah musternd auf sie beide herab. Er unternahm noch nicht mal den Versuch, seine Gedanken zu verbergen. Chula erhob sich und stellte sich vor Claudia, um sie vor seinem Blick abzuschirmen.
»Ich wollte nicht stören.« Praytor grinste.
»Brauchen Sie Briefmarken?«
»Eigentlich bin ich aus einem kriminalistischen Grund hier.« Er lehnte sich gegen den Schalter.
»Womit kann ich dienen, Praytor?« Sie bemühte sich um einen freundlichen Ton. Praytor hatte etwas an sich, das ihr Angst einjagte. Er war ein Muttersöhnchen, das sie bislang immer als Henri Bastions Speichellecker betrachtet hatte. Aber jetzt, wo Henri nicht mehr da war, um ihn herumzuscheuchen, wirkte er verloren. Was ihrer Meinung nach nichts Gutes bedeutete.
»Na, das sah mir doch aus wie ein ganz interessantes Spielchen, was Sie da zusammen getrieben haben.« Er grinste sie noch breiter an.
Chula entglitten die Briefe. Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken, damit sie nicht in Versuchung geriet, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. »Für Spielchen haben wir hier keine Zeit. Also, wollen Sie nun Briefmarken?«
Er schlug auf die Klingel am Schalter, legte seine langen Finger darum und brachte sie zum Verstummen. Chula fühlte sich an eine Spinne erinnert. »Ich hab gesehen, wie Sie zu dieser alten Hexe rausgefahren sind. Haben Sie mit der was zu schaffen?«
Unwillkürlich wollte sie ihm sagen, er könne sie am Hintern küssen, aber sie beherrschte sich. »Ich hab ihr und noch ein paar anderen die Post gebracht. So, wie ich es auch bei Ihnen und Ihrer Mutter mache, wenn Sie mehrere Tage lang nicht in der Stadt sind.«
»Haben Sie da zufällig jemanden gesehen? Jemanden, der sich womöglich dort versteckt hält?«
Chula klemmte sich die Lippe zwischen die Zähne, als müsste sie darüber erst nachdenken. »Nein. Ich hab eigentlich überhaupt niemanden gesehen. Madame war nämlich nicht zu Hause. Warum fragen Sie?«
»Wo steckt dieser Professor?«, kam Praytors Gegenfrage.
Die Antwort traf sie unvorbereitet. Sie runzelte die Stirn. »John ist unterwegs, um mit einigen Leuten zu reden. Warum?«
»Sheriff Joe braucht nämlich seine Hilfe. Er hat mich gebeten, ihn aufzutreiben.«
Chula war sich nicht sicher, ob Praytor zu trauen war – und ob sich der Sheriff wirklich so plötzlich für Dr. John LeDeux interessierte. »Wo ist Raymond?«
»Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, hat er im Streifenwagen und mit dieser Hure auf dem Beifahrersitz die Stadt verlassen. Anscheinend hat er sich einen Tag freigenommen. Der Sheriff ist, gelinde gesagt, ein bisschen sauer.«
»Hat Raymond eine Spur des vermissten Kindes gefunden?«
Praytor schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sich das kleine Negergör nach Baton Rouge abgesetzt hat. Das war nämlich die Richtung, die Deputy Thibodeaux eingeschlagen hat. Ich bezweifle, dass Raymond da eine Fährte aufnimmt. Er ist wohl hinter ganz was anderem her.«
Chula beachtete die Anspielungen nicht und hob die fallen gelassenen Briefe auf. »Raymond entzieht sich nicht seinen dienstlichen Pflichten, Praytor. Der Sheriff weiß das – nur falls Sie es nicht wissen sollten.« Es ergab nicht viel Sinn, dass
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