Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
die Geschichte des Hauses erzählt hatte. Es war zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts von einem Pflanzer aus North Carolina erbaut worden, der sich bei den Akadiern niedergelassen und mit Reis und Zuckerrohr sein Vermögen verdreifacht hatte, bevor er während des Bürgerkriegs auf die falsche Seite setzte. Das Gebäude besaß geschmackvolle Räume, allesamt mit einem offenen Kamin und Holzstukkaturen ausgestattet, die von der Kunst eines erstklassigen Schreiners zeugten. Ein wunderbares Haus, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein schien, ein Ort, wohin die Schwerstkranken kamen, um geheilt zu werden oder zu sterben.
Der Rasen vor dem Fenster fiel leicht ab, gesäumt wurde er von Eichen, einem Krocketfeld, Vogelbädern, einem großen Pavillon sowie unten vom schnell fließenden Teche. Der Priester wusste das, weil er so manchen Sonntagnachmittag auf diesem herrlichen Grundstück zugebracht hatte. Jetzt verhüllte Nebel den vertrauten Anblick und dämpfte die Geräusche eines Schleppers, der flussabwärts unterwegs war. Wenn er hinaussah, war es, als würde er durch mehrere Schichten Gaze blicken. Veedals röchelnder Atem war an diesem trüben Novembermorgen das einzige Geräusch, das er hier vernahm.
Dass Veedal überhaupt noch lebte, hatte dem Priester diese missliche Lage beschert. Boday Smith hatte sich erholt, Daniel Blackfeather allerdings befand sich immer noch im Operationssaal, wo seine inneren Verletzungen behandelt wurden. Hätte Raymond Veedal nicht gestoppt, wäre Daniel jetzt tot.
Der Priester drehte sich um und betrachtete die schweißüberzogene Stirn des Bastion-Aufsehers. Veedal Lawrence war aus dem Schlamm der Sümpfe hervorgekrochen und hatte die Gestalt eines Menschen angenommen, aber er war noch nicht mal ein Tier. Er war ein abartiges Wesen.
Henri Bastion wiederum hatte seine Brutalität gutgeheißen oder zumindest nichts dagegen unternommen. Der Priester hatte sich nie für naiv gehalten, aber jetzt wurde ihm klar, dass er, Folge seiner ehrgeizigen Bestrebungen, mit einer gewissen Blindheit geschlagen war. Er hatte nicht mitbekommen, was auf der Bastion-Plantage vor sich ging, weil er sich geweigert hatte, hinzusehen. Die Kinder, Marguerite, die Sträflinge, vielleicht sogar Adele – alle hatten unter Henri Bastion zu leiden gehabt, während er dem reichsten Mann der Stadt die Kirchentore geöffnet hatte. Und jetzt galt Marguerite als vermisst, Sarah Bastion befand sich in der Obhut von Chula Baker, und die Jungen würden im Gefängnis bleiben, bis ihre Mutter gefunden wurde.
Im Nebel, der in schweren Schwaden herantrieb, glaubte er mitten auf Doc Fletchers Grundstück eine Frau zu erkennen. Etwas an ihr berührte ihn wie mit eisiger Hand. Er wischte über das beschlagene Fenster, um besser sehen zu können. Als ein Windstoß den Nebel etwas lichtete, sah er sie wieder. Sie starrte ihn mit herunterhängenden Armen an, als könnte sie bis auf den Grund seiner Seele sehen. Ihr dunkles Haar, feucht vom Nebel, fiel ihr auf die nahezu nackten Brüste. Ihre dunklen Augen unter den geschwungenen Brauen waren auf ihn gerichtet. »Rosa«, flüsterte er und wich einen Schritt zurück.
Als er wieder hinsah, war der Rasen leer. Sein Verstand hatte ihm einen Streich gespielt. Die Vogelscheuche, Veedal Lawrence, Marguerite, die verschwunden war und ihre Kinder zurückgelassen hatte, die nun niemanden mehr hatten, der sich um sie kümmerte – das alles kam ihm vor, als wäre es ganz und gar unmöglich. Und dennoch war es Wirklichkeit. Die Frau auf dem Rasen, eine harmlose Erscheinung, war es nicht.
Er hörte ein Klopfen an der Tür. Als er sich umdrehte, stand Sheriff Joe Como im Türrahmen. Nachdem er einen verächtlichen Blick auf Veedal geworfen hatte, bedeutete er dem Priester, zu ihm nach draußen auf den Flur zu kommen.
»Marguerite ist fort. Verschwunden. Ich hab überall nach ihr gesucht, aber sie ist wie vom Erdboden verschluckt«, sagte Joe. »Hat sie Ihnen irgendwas erzählt, als sie Ihnen die Jungen gebracht hat?«
Der Priester dachte nach. »Sie sagte, sie hätte genug von ihnen und sie sollten in eine Besserungsanstalt geschickt werden.«
»Praytor Bless würde ihr da zustimmen.« Erst zeichnete sich auf seinen Lippen ein träges Lächeln ab, als er dann aber die Geschichte erzählte, musste er laut glucksen. »Sie hätten es sehen sollen, wie der Junge an Praytors Bein hing. Ich wette, er hat ihm einen ziemlichen Brocken rausgebissen, direkt durch die Hose.«
Der Priester
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