Im Netz der Angst
ihren Unterlagen nachschauen, ob sich darin irgendein Hinweis darauf fand, dass bei Taylor im Alter von sieben oder acht Jahren etwas Bedeutsames vorgefallen war. »Und Sie können sich nicht vorstellen, was das ausgelöst haben könnte?«, hakte sie nach.
»Ich dachte immer, dass es irgendwie mit der Schule zu tun hatte. Kinder können grausam sein.«
Marian wandte sich mit tränenüberströmten Wangen von dem Foto ab.
Wohl wahr, wie Detective Wolf jetzt sagen würde. Aimee warf einen Blick zurück über die Schulter. Er stand in der Küche und schien alles, was sie mit Marian besprochen hatte, mitgehört zu haben.
Aimee betrachtete erneut das Foto mit dem fröhlich lachenden Kind, das so selbstsicher und in der Welt gut aufgehoben wirkte. Dieses Bild war nur schwer mit dem blutverschmierten Mädchen in der Notaufnahme zu vereinbaren. Ihr Herz schlug schneller. Den Zeitpunkt des wie auch immer gearteten Traumas zu bestimmen war der erste Schritt, um herauszufinden, was genau Taylor zugestoßen war.
Doch dann sank ihr Mut gleich wieder. Dazu würde sie überhaupt keine Gelegenheit bekommen. Noch am Ende dieses Tages würde Taylor hinter den Mauern des Whispering Pines- Klinikums untergebracht sein und Aimees Unterstützung wäre dann nicht länger gefragt.
Aimee warf noch einen letzten Blick auf das sorglose kleine Mädchen auf dem Bild und wünschte, sie könnte es fragen, wer ihm wehgetan hatte, wann und wie all das geschehen war. Auf das Warum gab es ohnehin keine Antwort – die gab es nie. Zumindest keine, die es rechtfertigen würde, einem Kind seine Unschuld und sein Urvertrauen zu rauben.
»Ich bin mir sicher, dass es nichts mit ihrem Zuhause zu tun hatte«, fuhr Marian fort. »Meine Schwester … meine Schwester war eine wunderbare Mutter. Und Orrin war der geborene Versorger. Er wollte stets nur das Beste für Stacey und Taylor.« Ihre Stimme zitterte. »Für seine Mädchen immer nur das Allerbeste. Nicht weniger als das. Immer.« Sie wischte die Tränen fort. »Taylors Zimmer ist da hinten.«
Aimee folgte ihr den Flur entlang, auch Detective Wolf kam mit. Aimee ignorierte ihn.
Taylors Zimmer war ein Abbild davon, wie sich ihre Persönlichkeit erst kürzlich drastisch verändert hatte. Und wie verzweifelt jemand – höchstwahrscheinlich ihre Mutter – versucht hatte, an der alten Taylor festzuhalten. In der Mitte des Raumes stand ein Himmelbett, dessen Baldachin aus mit Spitze besetzten, bodenlangen Blümchenvolants bestand. Der in Weiß und Pink gehaltene Schreibtisch passte zu den bonbonfarbenen Kommoden. Die in einem hellen Lavendelton gestrichenen Wände waren jedoch bis zur mit Orchideenmuster verzierten Decke über und über mit Bandpostern bedeckt. My Chemical Romance . Death Cab for Cutie . AFI . Aimee erkannte die meisten Bandnamen wieder. Taylor war häufig mit aufwendigen Kugelschreiberzeichnungen auf den Armen zur Therapie erschienen, die sich um einen dieser Bandnamen gerankt hatten. Stacey war tatsächlich erleichtert gewesen, als ihre Tochter angefangen hatte, sich anzumalen, statt sich zu ritzen. Sie meinte, darin einen großen Fortschritt zu erkennen.
Die zerwühlte Tagesdecke auf dem ungemachten Bett und die Vorhänge waren ganz klar neuer. Der Überwurf war aus rotem Satin und in schwarzen Samtsaum gefasst, der Spitzenvorhang hatte ein eingewobenes Spinnenmotiv. Im Bücherregal erkannte sie Titel wie Everything That Creeps und Amphigorey , auf dem Nachttisch lag allerdings Sei dein bester Freund – Wegweiser zur Selbstliebe . Auf einer der Kommoden sah sie einen Comic-Roman über Buffy , die Dämonenjägerin . Aimee nahm das Buch in die Hand. Auf dem Umschlag klebte ein kleines gelbes Zettelchen, auf dem stand: »Dachte, das würde dir vielleicht gefallen. Sean.«
»Echt gruftimäßig«, sagte Aimee und blickte sich um.
»Eigentlich eher emo«, verbesserte sie Marian.
Aimee hob fragend die Brauen.
»Meine Margot ist nur fünf Jahre älter als Taylor. Sie hat es so genannt, als Taylor diese neue Phase hatte. Sie sagte, Taylor sei voll emo geworden. Emotionaler Hardcore, haben Sie schon mal davon gehört? Ist ein bisschen wie Punk, aber mit mehr Gefühl.« Marian zog bereits mehrere Schubladen auf und zerrte Kleidungsstücke heraus.
Detective Wolf stand im Türrahmen und deutete mit dem Kinn auf die Poster. »Das sind alles Emo-Bands.« Als sich Aimee verblüfft zu ihm umdrehte, zuckte er mit den Schultern. »Ich habe Nichten und Neffen.«
Als Marian die Tagesdecke glatt
Weitere Kostenlose Bücher