Im Netz der Angst
keinen Reim auf meine Zeit dort machen.«
»Das sagt meine Mom auch.« Taylor hielt den Blick wieder gesenkt. »Sie sagt, dass das alles in fünf Jahren an Bedeutung verloren haben wird. Und dass ich mich dann nicht mal mehr daran erinnern kann, warum das für mich überhaupt wichtig war.«
»Denkst du, sie hat recht?«, hatte Aimee gefragt, woraufhin Taylor nur mit den Schultern zuckte. »Wahrscheinlich. Jetzt gerade kann ich nicht so ganz nachvollziehen, was sie meint, aber Mom behauptet, das kommt mit der Zeit von allein.«
»Redest du häufiger mit deiner Mom über deine Probleme? Oder wenn du verwirrt bist und nicht mehr weiterweißt?« Liebevolle Zuwendung und Unterstützung durch die Mutter spielte für jedes Mädchen eine große Rolle. Für Taylor könnte es ein Rettungsanker sein.
Ein Schatten legte sich auf Taylors Gesicht. »Manchmal. Zumindest früher.«
»Weshalb hast du damit aufgehört?«
Taylor hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Als ich noch klein war, war alles in Ordnung. Da wusste sie irgendwie immer, was sie tun musste oder sagen sollte. Jetzt ist sie total bescheuert. Sie hat keine Ahnung von meinem Leben.«
Das deckte sich mit dem, was Stacey Dawkin Aimee erzählt hatte: Dass Stacey ihrer Tochter früher sehr nahegestanden, sich dann aber eine unüberwindbare Kluft zwischen ihnen gebildet hatte und sie mittlerweile einfach nicht mehr an Taylor herankam. Stacey konnte sich nicht erklären, woran das lag. Sie wusste nur, dass es vor einigen Monaten angefangen hatte, als sich auch Taylors Verhalten so radikal verändert hatte.
»Hast du versucht, es ihr zu erklären? Hast du versucht, ihr einen Eindruck von deinem Leben zu vermitteln?«
Taylor verdrehte die Augen. »Wozu? Ihre Ratschläge waren super, als ich noch in der Vorschule war und mein größtes Problem darin bestand, dass Connor Sigal mir immer meine Buntstifte wegnahm. Jetzt ist es anders. Nicht so einfach, wie sich mit den Stiften abzuwechseln.«
»Was ist denn heute dein größtes Problem?«, hatte Aimee mitfühlend gefragt.
Taylor war erstarrt und hatte wieder ihre Fingernägel inspiziert.
»Taylor?«, hakte Aimee nach.
»Ich weiß es nicht mal«, hatte Taylor mehr zu sich selbst geflüstert. »Ich weiß nicht, warum ich mich so fühle. Ich weiß nur, dass ich oft das Gefühl habe, innerlich zu verbrennen.«
»Taylor, erzähl mir davon, wie es ist, wenn du dich ritzt«, hatte Aimee mit sanfter, aber auch entschiedener Stimme gesagt.
Taylor war ganz ruhig geblieben und schloss die Augen. »Ich weiß nicht. Ich fühle mich dann …« Sie brach mitten im Satz ab.
»Fühlst du dich sonst wie betäubt?« Manchen Mädchen wurde alles zu viel und dann verschlossen sie sich jeglichem Gefühl. Sie ritzten sich, um überhaupt wieder etwas spüren zu können, irgendetwas. Da waren keinerlei Todessehnsucht oder Selbstmordgedanken, im Gegenteil. Das eigene Blut fließen zu sehen, half ihnen dabei, sich zu vergewissern, dass sie eben nicht tot, sondern immer noch lebendig waren, dass noch immer ein Herz in ihrer Brust schlug.
Doch Taylor schüttelte erneut den Kopf. »Nein. Das ist es nicht. Ich fühle und denke eher viel zu viel. In meinem Kopf schwirren all diese Gedanken umher, und zwar so schnell, bis ich kurz vorm Durchdrehen bin. Wenn ich mich schneide, dann wird alles langsamer. Es hilft mir, klarer zu denken, mich zu konzentrieren. Es ist … befreiend.«
Sie kamen an einen wichtigen Punkt. »Wie lange fühlst du dich schon so?«
Ein Windstoß peitschte gegen die Fensterscheiben, und ein Ast kratzte außen am Gebäude entlang. »Ich weiß nicht.« Taylor zog sich die Armeejacke enger um den Oberkörper, ihre schmale Gestalt verschwand nahezu in dem schäbigen Ungetüm.
»Hast du schon immer solche Gefühle gehabt?«, bohrte Aimee nach.
»Nein. Nicht immer. Es gab eine Zeit, in der alles in Ordnung war. Da konnte ich ganz normal denken.« Taylor beugte sich vor, als wäre sie ebenso gespannt auf ihre eigenen Antworten wie Aimee. »Dann war mir plötzlich manchmal so, als würde alles keinen Sinn mehr ergeben.«
»Und wann war diese Zeit, in der alles noch in Ordnung war? Wann hat das aufgehört?« Vielleicht hatte Taylors Persönlichkeitsveränderung ja zu dem Zeitpunkt eingesetzt, ab dem nicht mehr alles »in Ordnung« gewesen war.
»Ich weiß nicht. Hat einfach irgendwann aufgehört. Es ist ja auch nicht die ganze Zeit über so wie jetzt. Ich muss das nur einfach manchmal tun, wissen Sie, um klarzukommen«,
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