Im Netz der Angst
seinen Dad und Orrin arbeiten, sobald er sein Studium abgeschlossen hat. Orrin hat sich immer nur lobend über Sean geäußert. Offensichtlich hat der Junge ein Händchen für Finanzen und ist auch sonst wirklich gescheit. Und ich glaube, Taylor hat sich gefreut, Sean zu sehen. Sie hat ein wenig schneller geschaukelt, als er vorhin reinkam.« Marian zog ihr Strickzeug aus der Handtasche.
»Waren die beiden befreundet, bevor Sean weggezogen ist?«, fragte Aimee. Taylor hatte Sean in den Therapiesitzungen mit keiner Silbe erwähnt, aber wenn er lange fort gewesen war, dann gab es ja auch keine Veranlassung dafür.
Marian lächelte. »Ich denke, Taylor war ein wenig in Sean verknallt. Sie ist ihm früher überallhin gefolgt. Sie haben ja gesehen, wie gut er aussieht – genau wie sein Vater. Er war mal ein bildhübscher Junge.« Marian errötete ein wenig.
Aimee nickte. »Sie sind beide gut aussehende Männer.«
»Gott sei Dank«, sagte Marian aus tiefster Seele. »Sean muss gerade ins Teenageralter gekommen sein, als er wegzog. Er hatte allerdings nie eine dieser ungelenken Phasen, die Jungs in dem Alter normalerweise durchmachen.«
»Es ist toll, wie gut er sich mit der neuen Familie seines Vaters versteht. Nicht jedes erwachsene Kind ist besonders erfreut, wenn ein Elternteil wieder heiratet – schon gar nicht, wenn andere Kinder mit in die Ehe eingebracht werden.«
»Genau!«, rief Marian aus. »Es ist fast so, als hätte er sein ganzes Leben lang auf einen kleinen Bruder gewartet. Er verbringt viel Zeit mit dem kleinen Thomas und liebt ihn wirklich abgöttisch.«
»Das erklärt dann auch, warum er sich so schnell auf den Weg gemacht hat, um bei der Suche nach dem Welpen zu helfen«, bemerkte Aimee.
Marian nahm das Strickzeug zur Hand. »Das und wohl auch, weil er sich in Ihrer Gegenwart ein wenig unwohl fühlt. Er ist sehr schüchtern. Stacey hat mir gegenüber mal erwähnt, dass er heute verschlossener ist als früher. Schon seltsam. Ich weiß noch, wie charismatisch er als Junge war, ein typischer Anführer. Aber ich schätze mal, die Menschen entwickeln sich eben in die verschiedensten Richtungen.«
Aimee beugte sich zu Taylor nach unten und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Sieh mal, Taylor, ich hab dir etwas mitgebracht.« Aimee breitete die Zeichensachen vor Taylor auf dem Tisch aus.
Das Mädchen rührte sich nicht.
»Ich dachte, du würdest vielleicht gern ein bisschen malen«, schlug Aimee vor, als sei es das Natürlichste der Welt. »Dr. Brenner sagte, ich kann dir die Sachen dalassen, damit du sie benutzen kannst, wann immer dir danach ist.«
Mit der linken Hand umklammerte Taylor weiterhin Sammy den Hund, die rechte jedoch tastete nach den Kreidestiften.
Auch Marian hatte das mitbekommen. Aimee legte ihr eine Hand auf den Arm und schüttelte kurz, fast unmerklich, den Kopf. Als Marian sie daraufhin verwirrt anblickte, bedeutete Aimee ihr, still zu sein. Marian nickte. Die beiden Frauen begannen, sich über Immobilienpreise zu unterhalten und taten unbeteiligt.
Taylor öffnete die Schachtel mit den Pastellkreiden und fuhr mit den Fingern über die Farben. Sie schien weder Aimee noch Marian wahrzunehmen, doch Aimee war überzeugt, dass sie alles um sich herum registrierte und versuchte, sich so ruhig wie möglich zu verhalten und sich nur langsam zu bewegen. Taylor schien den Farbkasten jedoch nicht wirklich anzusehen. Sie hielt den Kopf weiterhin gesenkt und schaukelte wie zuvor leicht hin und her, das Plüschtier noch immer umklammert.
Dann plötzlich entnahm Taylor ein Stück Kreide aus dem Kasten und begann zögerlich zu zeichnen. Aus dem Augenwinkel heraus konnte Aimee erkennen, dass die Linien kaum sichtbar waren. Sie sah auch, dass es Marian zunehmend schwerer fiel, sich nichts anmerken zu lassen. In den nächsten Minuten wurden Taylors Linien deutlicher. Ihr Arm bewegte sich kraftvoller und zwischendurch hörte sie immer wieder kurz mit dem Schaukeln auf.
Aimee und Marian gaben nicht länger vor, sich zu unterhalten, wahrten aber weiterhin ein wenig Abstand. Auf diese Art und Weise Verbindung zur Außenwelt aufzunehmen bedeutete einen Durchbruch für Taylor. Anscheinend hatte sie das Gefühl, sich ohne Druck ausdrücken zu können; ohne dass sie verurteilt oder ausgefragt wurde.
Sie füllte eine Seite, riss sie vom Block ab und machte sich an das nächste Bild. Sie zeichnete jetzt schneller, die Gesten wurden immer schwungvoller. Aimee hielt den Atem an. Wie gern hätte sie das
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