Im Netz des Spinnenmanns: Thriller (German Edition)
versuchte, durch die Schlitze in seiner Maske zu sehen. Er wirkte größer und kräftiger, auch seine Schultern sahen breiter aus. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er einen dichten, struppigen Vollbart. Jetzt war er wohl glatt rasiert, denn die Maske direkt auf seinem Kinn aufzuliegen scheint.
»Jetzt mach endlich, Lizzy.«
Das Herz schlug heftig in ihrer Brust, als sie sich von dem harten Boden erhob und loslief. Da sie sich länger nicht bewegt hatte, fühlte sie sich wackelig auf den Beinen, ließ sich aber dadurch nicht aufhalten. Sie humpelte weiter und passte dabei auf, dass sie nicht gegen den Behälter stieß, in dem er seine geliebten Spinnen aufbewahrte. Sie verließ das Zimmer und eilte den Flur entlang in Richtung Bad. Ein schneller Blick nach hinten über die Schulter verriet ihr, dass er ihr nicht folgte und sie nicht einmal beobachtete.
Er hatte sie nur einmal zuvor alleine ins Bad gelassen. Einen Monat lang hatte sie gehungert. Falls er sie ein weiteres Mal unbeaufsichtigt ins Bad ließ, musste sie schlank genug sein, um sich durch das Fenster über der Badewanne zu zwängen. Sie hatte keineAhnung, wie viel sie abgenommen hatte, aber ihre Arme und Beine sahen aus, als bestünden sie nur noch aus Haut und Knochen. Sie fühlte sich unbeschreiblich schwach. Obwohl sie kaum etwas im Magen hatte, war ihr zum Kotzen zumute.
Sie drehte den Türknauf, ging ins Bad und schloss leise die Tür hinter sich ab. Das passte ihm bestimmt nicht, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie erschrak, als sie sich im Spiegel über dem Waschbecken sah. Da war nichts außer hohlen Augen und Haut und Knochen. Das fettige Haar hing ihr in losen Strähnen über die Ohren. Ihre knochigen Finger strichen über die cremefarbenen Kacheln, die das Waschbecken umrandeten. Das Blau der Wände wirkte beruhigend. Alles war so sauber, so völlig anders als das Zimmer, in dem er sie gefangen hielt. Chromblitzende Handtuchhalter, blank polierte Spiegel, eine Kerze und eine Blumenvase. So sauber und schlicht, dass es irgendwie nicht zum Rest des Hauses passte, wo das reinste Chaos herrschte.
Bevor sie auf die Wannenkante stieg, um ans Fenster zu gelangen, fiel ihr Blick auf eine Armbanduhr … seine. Der Spinnenmann liebte diese Uhr. Sie wusste das, weil er sie oft liebevoll streichelte, wenn er sie am Handgelenk trug. Wie ein Haustier, das man gern hat. Sie nahm die Uhr an sich und streifte sie sich über den Arm, bis über den Ellenbogen. Dann nahm sie die flüssige Handseife und stellte sich auf die Wannenkante. Von dort aus kam sie an das Fenster, dessen Höhe und Breite jeweils etwa dreißig Zentimeter betrugen. Sie hatte ihre Flucht über mehrere Wochen hinweg geplant. Zuerst spritzte sie Seife auf den Fensterrahmen, um kein oder nur wenig Geräusche zu machen, und dann stieß sie das Fenster langsam und vorsichtig auf.
Sie versuchte, sich hochzuziehen, aber der Mangel an Nahrung und Wasser hatte sie geschwächt. Ihre Schultern brannten und sämtliche Muskeln taten weh, als sie verzweifelt versuchte, ihren Körper so weit anzuheben, dass sie durch das offene Fenster schlüpfen konnte. Sie traute sich nicht, mit den Beinen nachzuhelfen, aus Angst, sie könnte dabei gegen die Wand treten und sich durch die Geräusche verraten.
»Lizzy!«
Er rief ihren Namen. Sie erstarrte.
»Lizzy!«, rief er ein zweites Mal.
Jetzt oder nie. Es war ihre letzte und einzige Chance.
Die Zeit drängte. Er war ein Choleriker und kräftig noch dazu. Wahrscheinlich würde er die Tür zum Bad mit einem einzigen Stiefeltritt eintreten.
Gib dein Bestes, Lizzy
. Scheiß auf die Geräusche! Dieses Mal sprang sie und zog sich strampelnd und ächzend hoch, bis sie es schließlich schaffte, die Schultern durch den Fensterrahmen zu zwängen.
Er rüttelte an der Tür. Jetzt würde er jeden Moment da sein.
Ihr Herz schlug so schnell und heftig, dass sie das Gefühl hatte, es würde explodieren. Ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, wo sie womöglich landete, sprang sie mit dem Kopf voraus aus dem Fenster und landete in einem dichten Gebüsch. Spitze Äste bohrten sich in ihr Fleisch. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, als sie sich krampfhaft aus dem Gestrüpp befreite. Die Zeit, die sie brauchte, um festen Boden unter die Füße zu bekommen, kam ihr wie eine Ewigkeit vor.
Er brüllte und hämmerte gegen die Tür.
Nur keine Panik, Lizzy. Was auch immer du tust, bleib ja nicht stehen.
Nur mit einem T-Shirt bekleidet,
Weitere Kostenlose Bücher