Im Netz des Spinnenmanns: Thriller (German Edition)
einer kleinen Versuchung nur schwer widerstehen.
Hayley hatte alles über den Spinnenmann gelesen. Wahrscheinlich wusste sie mehr über ihn, als er über Lizzy wusste. Er stellte seinen Opfern systematisch nach und lernte dabei alles über ihre Ängste, ihre Vorlieben und ihre Abneigungen.
Über Hayley Hansen wusste er allerdings nicht das Geringste. Er hatte keine Ahnung, dass das Schlimmste, was er ihr antun konnte, war, sie nach Hause zu ihrer Mutter zu bringen. Sie musste schmunzeln, als sie tief in ihre Jackentasche griff und nach dem etwa acht Zentimeter langen Messer mit der Hakenklinge tastete. Ein weiteres Messer, eins mit doppelschneidiger Klinge, steckte in einem ihrerStiefel, und zu guter Letzt hatte sie für den Notfall ein Klappmesser in der Turnhose versteckt, die sie unter ihrer Jeans trug.
Sie hatte damit gerechnet, dass er kommen würde. Eine Sache machte sie jedoch stutzig. Wenn sie wusste, dass er Lizzy beobachtete, warum war dann das FBI nicht auf dieselbe Idee gekommen? Wo waren die Männer in Schwarz, wenn man sie brauchte?
Ihren Plan hatte sie vor ein paar Tagen ausgearbeitet. Das war auch der wahre Grund dafür gewesen, warum sie Lizzy besucht hatte – sie wollte mit ihr besprechen, wie man den Spinnenmann am besten aus der Reserve locken konnte. Aber Lizzy hatte so erschöpft ausgesehen, dass sie es sich anders überlegt hatte … zumindest bis heute Abend, als sie Lizzys Gesicht in sämtlichen Nachrichtensendungen sah. In diesem Augenblick hatte Hayley beschlossen, den Mörder auf eigene Faust zu fangen. Hayley hatte mit Lizzy offenbar noch etwas anderes gemeinsam. Beide neigten dazu, falsche Schuldgefühle in sich hineinzufressen. Warum sonst hatte der Spinnenmann einen Brief an Kanal 10 gesandt und darin Lizzy die Schuld an dem gegeben, was er getan hatte? Weil er
wusste
, dass sie ein schlechtes Gewissen haben würde, und weil es ihm Spaß machte, Lizzy leiden zu lassen. Die Vorstellung, Lizzy könne von Tag zu Tag stärker werden, gefiel dem Spinnenmann ganz und gar nicht.
Für den Fall, dass die Dinge nicht nach Plan liefen, zog Hayley den Brief aus der Tasche, den sie an Lizzy geschrieben hatte, und steckte ihn in die Ritze zwischen dem feuchten Gras und dem Bordstein. Sie wollte weder dass der Spinnenmann sah, was sie machte, noch dass der Wind das Blatt Papier wegwehte. Wenn er sich über sie hermachte, würde sie ihn töten. Aber falls doch etwas schiefging, wollte sie eine Spur hinterlassen. An genau diesem Bordstein warteten täglich jede Menge Jugendliche auf ihre Eltern. Früher oder später würde jemand den Brief finden.
Selbst das Donnerkrachen und das Rauschen des Windes schafften es nicht, die sich nähernden Schritte zu übertönen.
Hayley wollte sich eigentlich noch eine Zigarette anzünden, aber stattdessen bückte sie sich und zog das Messer aus dem Stiefel.Einen verhassten Mörder zu töten und ihren Frust an ihm abzureagieren, war besser, als heimzugehen und sich von einem dieser Drogenhändler, die bei ihrer Mutter ein- und ausgingen, vergewaltigen zu lassen.
Er war jetzt direkt hinter ihr. Sie konnte sein Aftershave riechen – ein Mörder, der regelmäßig duschte.
Wer hätte das gedacht
?
Sobald sie spürte, wie sich seine Hand um ihren Hals legte, schnellte sie empor und stieß das Messer fest und schnell über ihre Schulter nach hinten. Die Klinge drang tief ins Fleisch. Als sie das Messer wieder herauszog, erklang ein Stöhnen, vermischt mit einem schmatzenden Geräusch. Obwohl sein Blut in alle Richtungen spritzte, hauptsächlich an Hayleys Hals und Gesicht vorbei, stand er noch immer auf den Beinen.
Was zum Teufel?
Er streckte erneut die Hand nach ihr aus.
Hayley stach wieder mit dem Messer zu, aber er wich aus, bekam ihr Gesicht zu fassen und drückte ihr ein feuchtes Tuch auf Nase und Mund. Sie wand sich hin und her und konnte einen Blick auf ihn erhaschen, aber er gab nicht nach. Er war stark. Und er schnürte ihr die Luft ab.
Immer wieder versuchte sie, ihn mit dem Messer zu treffen, aber ihre Arme bewegten sich kaum. Er grinste – dasselbe wollüstige Grinsen, das sie stets in Brians Gesicht sah, wenn er sich die Hose aufknöpfte.
Der einzige Unterschied war der, dass der Spinnenmann nicht so aussah, als stünde er unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol. Er wusste genau, was er tat. Seine Augen waren weit offen und hellwach. Mit seinem vollen Haar und dem markanten Kinn hätte er genauso gut als Lehrer oder Anwalt durchgehen
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