Im Netz des Teufels
Autoren von »Black’s Law« (achte Ausgabe) auswendig. Doch die Geheimnisse von »Twinkle, Twinkle« erschlossen sich ihm nicht.
Die Geheimnisse von Abby Romans Körper allerdings schon.
Um Mitternacht stand Michael im Türrahmen des Kinderzimmers. Abby hatte recht. Die Mädchen waren beide noch wach. Er betrat den Raum und kniete sich zwischen die beiden Betten.
»Hi, Daddy«, sagte Charlotte.
»Hallo, meine Damen«, erwiderte Michael. »Hattet ihr heute viel Spaß?«
Die beiden nickten im Einklang und gähnten. Manchmal unterschieden sie sich vollkommen in ihren Einstellungen und ihren Fähigkeiten, Probleme zu lösen, sodass man hätte meinen können, sie wären nicht einmal miteinander verwandt. Charlotte mit ihrer Gabe, die Logik im Chaos zu sehen. Emily mit ihrem Gefühl für Farben und ihrem schauspielerischen Talent. Meistens jedoch schien es so, als wären sie aus einem Holz geschnitzt und enger miteinander verbunden als die meisten anderen Zwillingspärchen.
Michael schaute in die Ecke des Zimmers. Ihr kleiner Tisch war für den Tee gedeckt. Wie immer standen dort drei Gedecke. Sie setzten nie einen Plüschbären oder einen Plüschhasen auf den dritten Stuhl. Er blieb stets leer. Das war eines der vielen Rätsel, die seine Töchter ihm aufgaben.
Michael drehte sich wieder zu den Mädchen um. Charlotte strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und winkte Michael näher heran, als wolle sie ihm ein Geheimnis verraten. Das taten sie oft, wenn sie ihm beide etwas erzählen wollten, doch meistens bekam er dann nur einen Kuss auf beide Wangen. Der Kuss sollte eine Überraschung sein.
Michael beugte sich zu seinen Töchtern hinunter. »Was ist?«, fragte er.
»Ta tuleb« , flüsterten die beiden Mädchen.
Im ersten Augenblick glaubte Michael, er hätte sich verhört. Es hörte sich an, als hätten sie »Tattoo« gesagt, doch das ergab keinen Sinn. »Was habt ihr gesagt?«
»Ta tuleb« , wiederholten sie.
Etwas überrascht lehnte Michael sich zurück. Sein Blick wanderte zwischen seinen Töchtern hin und her, und er schaute im sanften Schimmer des Nachtlichtes in die vier großen blauen Augen. »Ta tuleb?«
Sie nickten.
Der Satz weckte Erinnerungen an Michaels frühe Kindheit, an Abende in der Wohnung über der Pikk-Street-Bäckerei, an Nächte, in denen er Comics las, anstatt seine Hausaufgaben zu machen. Wenn seine Mutter mit ihren langen Stricknadeln aus Stahl in den Händen aus dem Küchenfenster schaute und Peeter Roman sah, der um die Ecke des Ditmars Boulevard bog, rief sie immer »Ta tuleb!« die Treppe hinauf, worauf Michael sich sofort wieder seinen Hausaufgaben widmete.
»Was meint ihr damit?«, fragte er.
Charlotte und Emily schauten sich an, zuckten mit den Schultern und rutschten unter die Decken. Michael verharrte einen Moment reglos. Er war noch immer total verblüfft. Dann deckte er die Mädchen zu und küsste sie auf die Stirn.
Ehe er das Kinderzimmer verließ, blieb er noch eine Weile nachdenklich in der Tür stehen.
Ta tuleb war Estnisch.
Seine Töchter sprachen kein Estnisch.
Michael betrat das kleine Zimmer im Erdgeschoss, das ihm als Arbeitszimmer diente, schaltete das Licht ein und öffnete die Aktentasche. Er nahm das Foto von Falynn Harris heraus und betrachtete es. Sie war erst vierzehn Jahre alt.
Falynn war die Tochter von Colin Harris, einem Floristen mit einem Geschäft in Long Island City, der im April vor zwei Jahren erschossen worden war. Ein gewisser Patrick Sean Ghegan hatte ihn kaltblütig ermordet. Ghegan und sein jüngerer Bruder Liam waren die teuflische Brut von Jack Ghegan, einem ehemaligen Gangster aus Queens, der jetzt in Dannemora eine lebenslange Haftstrafe verbüßte.
Falynn, die heimlich hinter dem Geschäft eine Zigarette rauchte, sah alles durch das Fenster auf der Rückseite des Hauses. Sie war durch das entsetzliche Verbrechen so traumatisiert, dass sie seitdem kein Wort gesprochen hatte. Und sie war die Hauptzeugin der Anklage.
Michael Roman hatte schon Prozesse gegen das organisierte Verbrechen gewonnen und die Anklage gegen einige der härtesten Gewohnheitsverbrecher vertreten, die jemals in die Mühlen der Justiz des Staates New York geraten waren. In zwei Fällen hatte er erfolgreich die Todesstrafe beantragt, wozu auch der berüchtigte Astrologiemörder gehörte. Mehr als einmal hatte er etwas angestrebt, das seine Kompetenz bei Weitem überschritt, und Erfolg gehabt. Aber dies war ein ganz besonderer Fall. Und er wusste auch,
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