Im Netz des Teufels
darum, dass der Mann die teure Uhr sah, sondern das kunstvolle Tattoo auf seinem Handgelenk, den schwarzen Stern, der unter der Manschette des Hemdes hervorguckte.
Als Aleks den Blick wieder zu dem Mann hob, schaute dieser ihm in die Augen. Aleks brauchte kein Wort hinzuzufügen.
Es gab kein Kästchen, keine Tasche. Es gab kein Barhydt. Hier hatte kein Geld den Besitzer gewechselt, und es war kein Geschäft abgeschlossen worden. Der große Mann mit den hellblauen Augen und der kleinen, gezackten Narbe auf der linken Wange hatte das Geschäft nie betreten.
Paulu war ein Vennaskond , ein Dieb wie er. Aber Vennaskond waren nicht nur Diebe, sondern Brüder, die einem strengen Code gehorchten. Wenn man einen bestahl, bestahl man alle. Ein Vennaskond hatte immer Rückendeckung.
Paulu war Anfang dreißig. Ein schlanker, ziemlich kräftiger Mann mit schnellen Bewegungen und einer nervösen Energie, weshalb er nicht eine Sekunde lang still verharrte. Er war in der Stadt aufgewachsen und kam daher niemals ganz zur Ruhe. Sein schwarzes Haar trug er glatt zurückgekämmt, und in seinem rechten Ohr steckten zwei goldene Ohrringe. Seine Tattoos auf den Unterarmen und am Hals trug er mit unverhohlenem Stolz.
Sie trafen sich in einer verlassenen Gegend am Westufer des Ülemiste-Sees, der nur wenige Meilen von der Innenstadt entfernt im Südosten Tallinns lag. Der internationale Flughafen lag am Ostufer, und im Abstand weniger Minuten donnerten die Flugzeuge über ihre Köpfe hinweg. Die beiden Männer sprachen Estnisch miteinander.
»Wann kommt er?«, fragte Aleks.
»Um elf. Er soll sehr pünktlich sein.«
»Was hast du ihm gesagt?«
»Nicht viel. Ich hab gesagt, du hast eine Tochter, die von einem Litauer ein Kind bekommt, und dass du das Baby auf dem Schwarzmarkt verkaufen willst.«
»Und du bist sicher, dass es dieser Mann ist, der den Verkauf meiner Anna und Marya vermittelt hat?«
Paulu nickte. »Ja, er hat das Geschäft über seine Mittelsmänner abgewickelt. Er ist schon seit vielen Jahren im Kinderhandel tätig.«
»Warum habe ich ihn nicht früher aufgespürt?«
»Er ist teuer und gut abgeschottet. Viele Leute haben Angst vor ihm. Zuerst musste ich mich mit drei anderen Männern treffen, die alle Geld von mir wollten.«
In Aleks stieg Wut hoch, doch er verdrängte sie. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich der Wut zu überlassen. »Kommt er allein?«
Paulu lächelte. »Ja. Er ist sehr arrogant.«
Zehn Minuten später durchdrangen helle Scheinwerfer die Dunkelheit. Ein Auto fuhr den Hügel hinauf. Es war ein knallroter amerikanischer SUV mit verchromten Felgen. Aus der Anlage dröhnte russischer Rap.
Noch so ein großkotziger Vory , dachte Aleks.
»Das ist er«, sagte Paulu.
Aleks griff in die Tasche und zog ein Bündel Euroscheine heraus. Er reichte Paulu das Geld, das dieser einsteckte, ohne einen Blick darauf zu werfen.
»Was soll ich tun?«, fragte er.
Aleks wies mit dem Kinn auf den Hügel im Westen. »Warte dort fünf Minuten. Dann kannst du verschwinden.«
Der kleinere Mann umarmte Aleks, einen Mann, den er niemals zuvor gesehen hatte, doch mit dem er in gewisser Weise enger verbunden war als mit Blutsverwandten. Kurz darauf setzte er sich aufs Motorrad und verschwand. Paulu würde länger als fünf Minuten alles vom nahe gelegenen Hügel aus beobachten. Das verstand sich für Mitglieder der Vennaskond von selbst.
Als Paulus Motorrad außer Sichtweite war, schaltete der Fahrer des SUVs die Scheinwerfer aus und stieg aus. Der Finne war kräftig und fast so groß wie Aleks, aber er hatte einen Bauchansatz. Er trug einen langen hellbraunen Mantel und Cowboystiefel. Sein schneeweißes dünnes Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und er hatte einen dicken, schwabbeligen Hals. Trotz der Dunkelheit trug er eine rote Sportsonnenbrille. Er war sicher langsam.
Sein Name war Mikko Vänskä.
Vänskä roch nach amerikanischem Aftershave und französischen Zigaretten.
»Sie sind Herr Tamm?«, fragte er. Tamm war das estnische Wort für Eiche . Sie wussten beide, dass der Name erfunden war.
Aleks nickte. Sie begrüßten sich höflich mit einem flüchtigen Handschlag. Die Abneigung zwischen ihnen konnte man, wie die Kerosinabgase in der Luft, förmlich riechen.
»Ich habe gehört, Sie haben etwas zu verkaufen«, sagte Vänskä.
Etwas , dachte Aleks. So dachte dieser Mann über seine Kinder, über Anna und Marya, als wären sie Dinge, eine Art Ware. Am liebsten hätte er den Mann auf der Stelle
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