Im Netz des Teufels
die Flöte gibt es da nicht so viel Auswahl, aber ich habe ein paar Arrangements von Charles Lloyd gespielt. Leider ohne großen Erfolg.«
Jilliane nickte. Sie kannte Charles Lloyd von Lloyd’s of London nicht. Einen kurzen Augenblick zögerte sie und warf dann einen Blick über die Schulter. Die meisten Passagiere schliefen.
»Es gibt da dieses Jazzlokal, wo ich gerne hingehe. Es liegt ganz in der Nähe meiner Wohnung. Es würde Ihnen sicher gut gefallen.« Sie zog einen Stift aus der Tasche und nahm eine Serviette vom Tablett. »Dort spielen sie oft Jazz im Stil von Kenny G.«
Ach du meine Güte , dachte Aleks. Jazz und Kenny G.
»Ich habe das ganze Wochenende Zeit, George«, flüsterte sie und gab ihm ihre Telefonnummer.
Jilliane war längst an ihren Platz zurückgekehrt, und Aleks hatte die Serviette eingesteckt. Er schaute auf die Uhr. Sie waren irgendwo über dem Atlantik.
Er fragte sich, wie Konstantine heute wohl aussah. Als er ihn zum letzten Mal gesehen hatte, beugte er sich über den Leichnam eines tschetschenischen Soldaten. Er hielt das Herz des toten Mannes in der einen Hand und einen angebissenen Granatapfel in der anderen. Wer Konstantine nicht gekannt hatte, hätte meinen können, der Mann würde Menschenfleisch essen.
Aleks kannte ihn gut und wusste, dass das ganz unmöglich war.
Er machte es sich auf dem Sitz bequem und schob die Gedanken an die Vergangenheit beiseite. Jetzt würde er erst einmal schlafen.
Fünf Stunden später erwachte Aleks aus einem Traum. Er hatte von Estland geträumt, von einem Fluss, der in der Sonne glitzerte, von gelben Blumen im Tal und Kindern, die durch den Kiefernwald liefen. Seinen Kindern.
Kurz darauf begann der Sinkflug, und das Flugzeug bereitete sich auf die Landung auf dem JFK International Airport vor.
5. Kapitel
Abby Roman starrte ungläubig auf den jungen Mann.
Er musste um die neunzehn Jahre alt sein und fuhr einen aufgemotzten Escalade mit getönten Scheiben, Spinner-Radkappen und einem Wunschkennzeichen mit dem Aufdruck YO DREAM. Echt klasse! Er sah ein wenig bedrohlich aus, wie er so hoch in dem Geländewagen saß, doch das gehörte sicherlich zu dem großspurigen Auftreten solcher Typen. Abby warf einen Blick auf die Mädchen. Sie saßen auf der Rückbank des Acura und waren noch angeschnallt. Die Zwillinge lauschten beide aufmerksam ihren Hörbüchern, die Michael auf die neuen iPods geladen hatte. Charlotte hörte sich Ein Bär mit Namen Paddington an, und Emily kicherte über Alexander und der schreckliche, fürchterliche, gar nicht gute, sehr schlechte Tag . Die Fenster waren geschlossen. Sie würden nichts hören, falls es etwas zu hören geben würde.
Soll ich, oder soll ich nicht? , fragte Abby sich.
Sie schaute auf die Uhr. Sie hatte achtundvierzig Stunden frei in der Klinik und brauchte mindestens sechzig Stunden, um alles, was sie sich vorgenommen hatte, zu erledigen. Das hatte sie jedoch noch nie daran gehindert, einem Idioten die Meinung zu geigen.
Jedenfalls hinderte es sie jetzt nicht daran.
Sie war zwar in Westchester County aufgewachsen, besaß damals ein Pferd namens Pablo, das natürlich nach Neruda und nicht nach Picasso benannt war, und ging im Broadway Dance Center zum Ballettunterricht. Anschließend hatte sie aber fast zehn Jahre in der Stadt gewohnt und in all den Jahren als Krankenschwester in der Notaufnahme gearbeitet. Außerdem ging es hier ums Prinzip.
Sie zog die Handbremse an und stieg aus dem Wagen.
Als der Junge aus dem Escalade stieg, sah sie, dass er um die eins sechzig groß war – Baggy-Jeans, T-Shirt, Mets Cap, die verkehrt herum auf seinem Kopf saß. Je größer der Geländewagen ... dachte Abby. Er drückte auf die Fernbedienung an seinem Schlüsselbund und schloss den Cadillac ab, worauf kurz die Hupe ertönte. Noch etwas, womit er sich beliebt machen konnte. Er drehte sich um, ging mit dem großspurigen Gang eines kleinen Ganoven auf den Supermarkt zu und starrte auf sein Handy – ein unwiderstehlicher Typ in einem Paar Nike Jordan Six Rings.
»Verzeihung«, sagte Abby mindestens doppelt so laut wie nötig.
Der Junge spähte in ihre Richtung und zog die Kopfhörer aus den Ohren. Er schaute sie an, und dann wanderte sein Blick nach links und rechts. Das konnte nur sie gewesen sein. »Ja?«
»Ich möchte dich was fragen.«
Der Junge musterte sie von oben bis unten und begriff vielleicht, dass sie für eine Frau um die dreißig ziemlich klasse aussah, und vielleicht – nur vielleicht –
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