Im Netz des Teufels
ungeheuer am Herzen lag – schon vor Tagen beendet worden war. Das sogenannte Voir-dire war abgeschlossen, und die Liste der Geschworenen stand fest. Und jetzt sagte ihr Ehemann, die Sache sei noch nicht erledigt.
»Bist du im Büro?«, fragte Abby noch einmal.
»Ja«, sagte Michael nach einem kurzen Zögern.
Er log. Abby hörte die Geräusche im Hintergrund, laute Straßengeräusche. Er hielt sich im Freien auf.
Warum log er?
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Abby. Sie warf Aleks einen Blick zu, als sie die Frage stellte. Er spürte sicher, dass sie versuchte, ihrem Mann etwas mitzuteilen. Der Fremde stand nun im Schatten der Diele und hörte dem Gespräch aufmerksam zu. Seine Augen konnte sie nicht sehen. Er war undurchschaubar. »Machst du dir Sorgen wegen des Prozesses?«
»Ach, eigentlich nicht«, erwiderte Michael. »Es sind nur noch ein paar Details zu klären. Keine große Sache.«
»Der Nachbarschaftströdel ist gut gelaufen.« Abby bemühte sich, einen lockeren Ton anzuschlagen. »Ich habe das Bild mit dem Stierkämpfer verkauft. Es ging für einen hohen einstelligen Betrag weg.«
Das Bild mit dem Stierkämpfer war ein Running-Gag. Wenn es um Ölgemälde und Acrylbilder ging, hatte Michael einen sonderbaren Geschmack. Jedenfalls gefielen ihm auch Bilder wie A Bachelor’s Dog und New Year’s Eve in Dog Ville . Den Stierkämpfer hatte er zu Collegezeiten auf dem Flohmarkt gekauft. Seitdem sie verheiratet waren, stand er in der Garage. Abby weigerte sich, das Bild im Haus aufzuhängen. Bei fünf größeren Nachbarschaftströdeln in zwei verschiedenen Countys fand sich dafür nie ein Interessent.
»Schatz?«, sagte Abby. »Das Bild?«
Eine lange Pause. Abby fragte sich schon, ob die Verbindung unterbrochen worden war. »Tut mir leid. Ich ruf dich noch mal an«, sagte Michael dann.
»Viel Glück.«
Es folgte wieder eine kurze Pause. »Danke.«
Da stimmte definitiv etwas nicht. Abby warf Aleks einen Blick zu. Er nickte. Sie sollte das Gespräch beenden.
»Okay ... Ich liebe dich.« Abby konnte die Worte kaum aussprechen. Sie fragte sich, ob sie vielleicht gerade zum letzten Mal mit ihrem Mann sprach. »Und ich ...«
Er hatte das Gespräch schon beendet.
Abby legte auf. Auf dem Display erschien das Bild, das Abby als Wallpaper benutzte, ein Bild, auf dem sie und Michael mit den Zwillingen am Strand von Cape May auf einer Bank saßen. Charlotte und Emily trugen Schlapphüte aus Stroh. Die Sonne brannte, das Wasser war blau, und der Sand schimmerte golden. Der Anblick versetzte ihr einen schmerzhaften Stich.
Aleks hielt Abby die Hand hin, damit sie ihm das Handy gab. Sie warf es ihm zu. Er fing es auf und steckte es ein. »Ich schätze Ihre Diskretion. Ich bin sicher, Anna und Marya ebenfalls.«
Anna und Marya. Er nannte diese Namen zum zweiten Mal.
Abby setzte sich auf einen Hocker in der Frühstücksecke. Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, als sie sich in White Plains nach Hockern umgesehen und über die Farbe, das Material und die Beschichtung diskutiert hatten. Damals schien all das so wichtig zu sein und eine Bedeutung zu haben. Das schien eine Million Jahre her zu sein.
»Was werden Sie mit uns machen?«, fragte sie.
Der Mann schmunzelte über ihre Wortwahl. »Wir machen gar nichts. Wir warten.«
Wie lange?, hätte Abby gerne gefragt. Auf wen? Auf was? Sie schwieg und starrte auf die Schublade in der Kücheninsel, in der die Messer lagen. Dem Mann, der sie hier gefangen hielt, entging ihr Blick nicht.
Er schaute kurz aus dem Fenster und drehte sich dann wieder zu Abby um.
»Wenn Sie jetzt bitte so freundlich wären und mich vorstellen würden.«
Er durchquerte die Küche und blieb wenige Schritte von Abby entfernt stehen. Zum ersten Mal sah sie sein Gesicht in der hellen Nachmittagssonne, die durch das große Küchenfenster hereinschien. Sie sah die blassen Augen, die ausgeprägten Wangenknochen und den spitzen Haaransatz. Plötzlich überkam sie furchtbare Übelkeit. Dieses Gesicht kannte sie fast so gut wie ihr eigenes. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Vorstellen?«, fragte sie in krächzendem Ton.
Aleks strich sich mit der Hand durchs Haar und über die Kleidung, als wäre er ein schüchterner viktorianischer Freier, der zum ersten Mal seine Verlobte trifft. »Ja«, sagte er. »Es wird Zeit, dass ich Anna und Marya kennenlerne.«
»Warum benutzen Sie immer diese Namen?«, fragte Abby, obwohl sie Angst vor der Antwort hatte. »Wer sind Anna und Marya?«
Aleks spähte aus
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