Im Netz des Teufels
Aktenschrank geöffnet war, bedeutete nichts. Noch nicht.
»Wer hat den Mord gemeldet?«, fragte Tommy.
»Sein Sohn. Er ist auf dem Heimweg von der Arbeit bei seinem Vater vorbeigefahren. Er arbeitet nachts als Sicherheitsbeamter bei der New Yorker Metro. Als er seinen Vater telefonisch nicht erreichen konnte, machte er sich Sorgen.«
»Kommt der Sohn als Täter in Frage?«
Powell schüttelte den Kopf. »Sieht im Augenblick nicht so aus«, erwiderte sie. »Viktor Harkov hat wohl ein paar fragwürdige Transaktionen durchgeführt, glaube ich. Er kannte ein paar zwielichtige Gestalten und hat ein paar krumme Geschäfte abgewickelt. Manchmal rächt sich so was irgendwann, nä?«, fuhr sie in lockerem Ton fort.
Michael hatte die Frau oft im Zeugenstand gesehen, und wenn es die Situation erforderte, sprach Powell wie eine Linguistikprofessorin. Auf der Straße drückte Desiree Powell sich mitunter weniger gewählt aus. Sie traf in jeder Situation den richtigen Ton.
Als der Verkehrslärm, die anderen Geräusche von der Straße und das rege Treiben am Tatort zu laut wurden, verstummte das Gespräch einen Augenblick. Powell warf Michael einen Blick zu. »Und wie geht es Ihnen?«, fragte sie ihn.
»Gut«, erwiderte er, obwohl er sich gar nicht gut fühlte.
»Sie arbeiten beide an dem Fall«, sagte Powell.
In dieser Feststellung lag eine indirekte Frage, die mehr an Michael als an Tommy gerichtet war. Sie hing in der Luft wie Rauch in einem dunklen Theater.
»Ich kannte ihn«, sagte Michael.
Powell nahm diese Information mit einem Nicken zur Kenntnis. Vermutlich wusste sie es. Wahrscheinlich wusste sie noch mehr über die Beziehung zwischen Michael und Harkov, doch aus Respekt vor Michaels Position vertiefte sie das Thema nicht. Jedenfalls im Augenblick. »Es tut mir leid, dass Sie einen Freund verloren haben.«
Michael wollte sie korrigieren, denn Viktor Harkov war keineswegs sein Freund gewesen, doch er ließ es sein. Es war im Augenblick besser, wenn er nicht zu viel sagte.
»Was haben Sie von dem Sohn erfahren?«, fragte Tommy.
»Der Sohn hat gesagt, er habe seinen Vater gestern Abend zum letzten Mal gesehen. Er hat dem alten Mann Suppe vorbeigebracht. Ich glaube, er weiß mehr, als er sagt. Ich habe vor, ihn heute noch zu verhören.«
»Das macht ihn nicht gerade sympathischer, nicht wahr?«, sagte Michael.
Powell schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich glaube auch, er kennt ein paar Gründe, warum das hier passiert ist. Ich werde ihn zum Reden bringen. Wie sagt man doch in Kingston so schön: Je höher der Affe steigt, desto mehr gibt er preis, nicht wahr?«
»Des?«
Es war Desiree Powells Partner, Marco Fontova.
»Entschuldigen Sie mich bitte kurz«, sagte sie und ging davon.
Fontova war um die dreißig. Er trug gerne Nadelstreifenanzüge, die eine Nummer zu klein für ihn waren, und er legte für die Tageszeit zu viel Aftershave auf. Sein Haar war kurz und stachelig, eine Frisur, die besser zu einem Zwanzigjährigen gepasst hätte, aber er konnte sie tragen. Michael kannte ihn nicht gut, wusste jedoch, dass Marco Fontova seine Ausbildung beim New York Police Department nach dem 11. September gemacht hatte. Und das bedeutete für Leute, die es nicht besser wussten – vor allem in den Medien –, dass es ihm an Kompetenz mangelte.
Michael hatte schon früh gelernt, dass Detectives, gute Detectives, das, was sie wussten, nicht an der Polizeiakademie oder aus Lehrbüchern oder von ihren Vorgesetzten lernten. Die Detectives wurden von älteren Cops geschult. Verhör- und Ermittlungstechniken wurden nach einem Brauch, der so alt war wie die Polizei selbst, von erfahrenen Detectives an junge Kollegen weitergegeben. Doch mit den Ereignissen des 11. Septembers änderte sich einiges. An diesem Tag und noch Wochen und Monate nach den Anschlägen stellte die Polizei ihre Arbeit in der Stadt New York quasi ein, und in gewissem Grad ruhten auch die kriminellen Aktivitäten. Alle verfügbaren Detectives wurden am Ground Zero zusammengezogen, um dort zu helfen.
Die Folge war, dass viele Detectives, die ihre zwanzig Jahre bald voll hatten, so viele Überstunden angesammelt hatten, dass sie in diesem Jahr in den Ruhestand gingen. Daraus wiederum resultierte, dass die nächste Gruppe der Detectives keine routinierten Kollegen hatte, von denen sie lernen konnten. Und es gab Leute, die glaubten, viele Ermittler, die jetzt seit sieben oder acht Jahren dabei waren, seien dem Job nicht gewachsen.
Desiree Powell gehörte
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